Die DNA der Oper

NOTENBLÄTTER VOLLSCHREIBEN Barrie Kosky, der neue Intendant der Komischen Oper Berlin

Alles, was danach kam, sei bei Monteverdi angelegt, sagt Barrie Kosky

Zum Ende dieser Spielzeit verlässt Andreas Homoki nach zehn Jahren die Komische Oper in Berlin. Er geht nach Zürich. Dass über seinen Nachfolger ausnahmslos alle glücklich sind, ist ganz und gar untypisch für die drei Berliner Opern und ihr kulturpolitisches Dauerthema, mindestens eine sei zu viel. Barrie Kosky hat mit sieben Inszenierungen eine derart makellose Perlenkette abgeliefert, dass man ihm zutraut, die Erfolgsgeschichte des Intendanten Homoki fortzusetzen. Unter dem hat sich die Komische Oper zur einzigen wirklich festen Größe in Berlin entwickelt. Ein festes, hochbegabtes Ensemble sorgt heute mit mutigem, modernem Musiktheater dafür, dass die beiden großen Schwestern wie ziemlich gichtige alte Tanten aussehen.

Aber Kosky wäre nicht das Theatertier, das er ist, hätte er sich mit einem geräuschlosen Amtsantritt zufriedengegeben. Am Mittwoch hat er das Programm seiner ersten Spielzeit vorgestellt. Zwölf neue Produktionen sollen dafür sorgen, dass die kleinste der drei Berliner Opern pausenlos im Gespräch ist. Spartengrenzen gibt es keine mehr, Musical, Operette und Kinderstück stehen neben Mozart und Tschaikowsky. Alles beginnt mit einem donnernden Paukenschlag: An einem einzigen Tag lässt Kosky alle drei überlieferten Opern von Claudio Monteverdi hintereinander spielen, nur unterbrochen von einem Mittag- und Abendessen. Kosky inszeniert alles selbst, und Barockfetischisten müssen sich auf einen Schock gefasst machen: Er hat die usbekische Komponistin Elena Kats-Chernin gebeten, die nur fragmentarisch notierten Werke für modernes Orchester unter Einschluss aller möglicher Instrumente der Volksmusik neu einzurichten.

Das Spektakel ist kein Selbstzweck. Kosky sagt, Monteverdi sei „die DNA der Oper“. Alles, was danach kam, sei hier angelegt. Vor acht Jahren hatte sich Kosky in Berlin eingeführt mit seiner Regie des „Orfeo“ an der Staatsoper unter der Leitung von René Jacobs: Ein junger Mann stürmt auf die Bühne, Notenblätter in der Hand, die er vollschreibt nach dem Diktat einer allegorischen „Musica“, die ihm die Allmacht der Töne erklärt. Auch jetzt möchte Kosky wieder Notenblätter vollschreiben lassen: Gleich nach dem totalen Monteverdi wird die Komponistin Olga Neuwirth ihre Rekombination der DNA von Alban Bergs „Lulu“ vorstellen – mit einer Jazzband, Elektronik und einem komplett neu geschriebenen dritten Akt.

Oper ist genetische Evolution: Mit dieser These könnte Kosky, der auf eine solide musikalische Grundausbildung an der Universität von Melbourne zurückblicken kann, die festgefahrenen Diskussionen über das Musiktheater gründlich über den Haufen werfen. Er selbst will es an Mozarts „Zauberflöte“ und Paul Abrahams „Ball im Savoy“ vorführen. NIKLAUS HABLÜTZEL