Die Magie der Anerkennung

WERKSCHAU Empathie schadet nie: Das Arsenal zeigt die erste Rückschau der bemerkenswerten Dokumentarfilme von Stefan Kolbe und Chris Wright. Sie bringen die kleinen Geschichten zum Leuchten

Kolbe und Wright haben in „Kleinstheim“ die Frage gestellt, ob man von einer unglücklichen Kindheit wegkommen kann

VON BERT REBHANDL

„Hinknien, anklopfen, und um Audienz betteln!“ Diese Anweisung steht groß an der Tür einer Wohnung in einem Plattenbau in Gräfenhainichen in Mitteldeutschland (Ost). So hält man sich nicht nur Nachbarn vom Leib, sondern auch Filmteams, die durch ein Haus gehen und ein „Klingelcasting“ machen. Vier Menschen haben den beiden Dokumentaristen Stefan Kolbe und Chris Wright dann aber doch geöffnet, und daraus entstand der Film „Das Block“, eine der herausforderndsten und bereicherndsten Begegnungen, die es im deutschen Kino in den letzten Jahren gab.

Natalja Tscherkaskaja, Silvio Pforte, Olga Anaeva (geborene Haller), Hans-Joachim Werner heißen die Menschen, die (sich) für diesen Film geöffnet haben. Sie erschließen eine Welt, die weit in den Osten reicht, in die Ukraine und nach Tschetschenien, und tief in eine Vergangenheit, die jemandem das ganze Leben verstellen kann. Die Geschichten, die Silvio aus seiner Kindheit erzählt, sind so wild, dass man nur mehr staunen kann über die Gefasstheit, die er nun meist an den Tag legt. Es gibt echte Not zu sehen in „Das Block“, existenzielle Not, aber auch Zeichen der Magie jener Anerkennung, die von einer Kamera und einem Mikrophon ausgehen kann.

Im Netz kann man ein Protokoll der Diskussion anlässlich der Premiere des Films bei der Dokumentarfilmwoche Duisburg 2007 nachlesen, da fallen entscheidende Begriffe, mit denen Kolbe und Wright sich herumschlagen müssen: „Slumtourismus“ oder gar „dermatologische Inspektion“, weil die Kamera manchmal sehr nahe dran an den Protagonisten. Aber spätestens wenn man „Das Block“ im Zusammenhang der drei anderen bisherigen Arbeiten des Duos sieht, wie es am Freitag und Samstag im Arsenal ermöglicht wird, lässt sich feststellen, dass hier ein sehr offenes Konzept von einer entscheidenden Kategorie geprägt wird: Empathie.

Die schwierigen Debatten darüber, wo und wann in einem Dokumentarfilm der Verrat an den Menschen beginnt, die sich dafür zur Verfügung stellen, finden bei Kolbe und Wright vielleicht Anknüpfungspunkte, aber das Unbehagen, das vor allem „Das Block“ auslöst, ist letztlich eines über die unauflösbaren Schwierigkeiten des Sozialen selbst. Das soll heißen, dass man diesen nur dann entkommt, wenn man die Tür eben nicht aufmacht, wenn man nicht zumindest mit Einzelnen das Risiko eingeht, den Block auch der Formatierungen zu öffnen, durch die in der Mediengesellschaft das individuelle Schicksal gefiltert wird.

Kolbe und Wright, beide Jahrgang 1972 und Absolventen der HFF in Potsdam-Babelsberg, arbeiten jenseits dieser Formatierungen, sie haben in „Kleinstheim“ zuletzt in einer betreuten Wohngemeinschaft in der Nähe von Magdeburg die Frage gestellt, ob man von einer unglücklichen Kindheit wegkommen kann, und haben für diese Frage einfach zugleich intime wie diskrete Porträts der jungen Menschen zusammengestellt, die sie dort getroffen haben. In ihrer Arbeitsteilung (Kolbe macht Bild, Wright macht Ton, Kolbe produziert, Kolbe macht auch Musik …) verkörpern sie die perfekte mobile Einheit, auf der das dokumentarische Kino seit der Verkleinerung der Kameras in den frühen sechziger Jahren beruht. Sie haben sogar noch die autoritative dritte Figur des Regisseurs eingespart, indem sie dieses Amt zwischen sich verteilt haben, in einem offensichtlich nicht immer vorn vornherein festgelegten Vorgehen.

In „Technik des Glücks“ kommt ein Moment des Autobiografischen ins Spiel, wenn Chris Wright von seinem Großvater erzählt, der von Manchester aus Bombeneinsätze nach Deutschland flog und dabei eines Nachts das weltgrößte Stromkraftwerk Zschornewitz in Sachsen-Anhalt „nicht fand“, das dann erst nach der Wende stillgelegt und gesprengt wurde und von dem der Film handelt. Auch hier muss es eine Art „Klingelcasting“ gegeben haben, denn ein wesentlicher Teil der Montage besteht aus sogenanntem Found Footage, aus Aufnahmen, die Menschen um Zschornewitz im Lauf der Jahrzehnte gedreht haben, in allen erdenklichen technischen Formaten.

Daraus entsteht in „Technik des Glücks“ eine vermittelte Alltagshistoriografie, die immer die große Geschichte im Blick hat, die kleinen Geschichten aber so erst richtig zum Leuchten bringt. In „Nernich. Nirgends nichts“ (1999), gedreht in einem litauischen Dorf an der Kurischen Nehrung, scheint die Geschichte immer wieder stillzustehen und sich in entrückte Stimmungen aufzulösen, doch auch hier wirkt die Magie der dokumentarischen Annäherung immer wieder kleine, epiphanische Wunder der Konkretion. Diese erste kleine Rückschau ist verdient, auf weitere Arbeiten von Kolbe/Wright darf man höchst gespannt sein.

■ Werkschau Kolbe/Wright: 20. und 21. April, Arsenal-Kino