Im vierten Jahr der Eurokrise

FLORIERENDE MANGELWIRTSCHAFT Im Arsenal-Kino sind ab Freitag neue Filme aus Griechenland zu sehen. Dort entsteht unter schwierigen Produktionsbedingungen das gegenwärtig aufregendste Kino Europas

Das neue griechische Kino redet selten Klartext

VON ANDREAS BUSCHE

In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte Theo Angelopoulos, dass sich das aktuelle griechische Kino zu stark auf die Familie konzentriere. In dieser Kritik von einem Säulenheiligen des europäischen Autorenkinos zeichnet sich ein Generationskonflikt ab, der für das Selbstverständnis des neuen griechischen Kinos prägend ist. Der symbolträchtige Universalismus eines Angelopoulos mutet einer neuen Generation von Filmemachern wie ein überholtes Klischee an, das ihrer Vorstellung von Kino diametral entgegensteht und zudem wenig Substantielles über das Griechenland im vierten Jahr der Eurokrise zu sagen hat.

Was von der Familie blieb

Der Rückzug auf die Familie ist auch den gesellschaftlichen Umständen geschuldet. Weil für einen politischen Diskurs in Griechenland kaum eine Öffentlichkeit existiert, haben Filmemacher wie Athina Rachel Tsangari, Giorgos Lanthimos, Yannis Economides oder Syllas Tzoumerkas notgedrungen die Familie und was davon geblieben ist, als Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte wiederentdeckt.

Von der eigenwilligen Dynamik dieser Auseinandersetzungen kann man sich in den kommenden Wochen im Kino Arsenal überzeugen. Außerdem kommen zwei herausragende Beispiele dieser jüngsten Entwicklung regulär ins Kino: Tsangaris bizarr-komische Coming-of-Age-Geschichte „Attenberg“, die nächste Woche anläuft, und Lanthimos’ verstörende Gesellschaftsparabel „Alpen“ (Start im Juni) über eine verschwörerische Gruppe, die Hinterbliebenen einen ungewöhnlichen Begleitservice anbietet. Tsangari und Lanthimos werden persönlich anwesend sein und Einblick gewähren in die schwierigen Produktionsbedingungen, unter denen das gegenwärtig aufregendste Kino Europas entsteht.

Faszinierend an diesem Phänomen ist, wie heterogen sich das griechische Kino präsentiert. Formal liegen Welten zwischen Tsangaris spröden Alltagsbeobachtungen, die dem tristen „Indie“-Sozialrealismus durch fröhlich-theatralische Brechungen regelrecht spotten, Lanthimos’ klinischen Verhaltensstudien, Panos Koutras’ camper Transenliebesgeschichte „Strella“ oder den gewalttätigen Verliererporträts eines Yannis Economides, dessen Beitrag „Knifer“ sich vielleicht am ehesten als griechischer Kitchen Sink Noir umschreiben lässt. Es ist keine Schule im strengen Sinne, obwohl das Netzwerk der Filmschaffenden eng ist. Diese Verbundenheit ist vor allem solidarischer Natur; weil man als Filmemacher in Griechenland einerseits stets am Rande des Bankrotts operiert, aber auch mangels identifikatorischer Stimuli aus der jüngeren Filmgeschichte. Es fehlen schlicht die Referenzpunkte für ein gemeinsames Kino. Man darf sich den neuen griechischen Film als florierende Mangelwirtschaft vorstellen.

Mitten in diese Durststrecke platzte vor drei Jahren wie aus dem Nichts Lanthimos’ „Dogtooth“, der als erster griechischer Film seit 50 Jahren für einen Oscar nominiert wurde. Lanthimos legt die griechische Mittelklassefamilie auf dem Seziertisch. Der Vater hat ein strenges Regime errichtet, seine erwachsenen Kinder kennen das Leben außerhalb der Grundstücksmauern nur aus seinen Erzählungen. Um diese Illusion von Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, müssen Welt und Sprache neu erfunden werden. Doch das System des Vaters lässt sich nur so lange aufrechterhalten, wie seine Autorität intakt ist.

Noch konkreter geht Tzoumerkas in seinem eindrucksvollen Familienporträt „Homeland“ vor, das die Geschichte dreier Generationen vor dem Hintergrund der politischen Zerwürfnissen seines Landes schildert. Indem er Bilder von den Ausschreitungen im Dezember 2008 den Protesten gegen die Militärjunta gegenüberstellt, schafft er es, eine Kontinuität der Unterdrückung und Verdrängung in der jüngeren griechischen Geschichte nachzuweisen.

Das neue griechische Kino redet selten Klartext, darum nimmt das Scheitern der Menschen umso absurdere Züge an. In seinem hochgradig merkwürdigen Regiedebüt „L“ erzählt Babis Makridis die Geschichte eines Mannes, dessen Auto seinen einzigen Lebensmittelpunkt darstellt. Als der Fahrer gefeuert wird, schließt er sich zur Verwunderung seiner Familie einer Motorradgang an.

Tsangari ist es, die sich in „Attenberg“ zu einem seltenen, unverhohlen politischen Kommentar hinreißen lässt: als Vater und Tochter über die Stadt blicken, die er selbst mitzuverantworten hat. Aspra Spitia ist ein obszönes Relikt der sechziger Jahre, eine moderne, dem sozialistischen Ideal nachempfundene Arbeitersiedlung, finanziert vom Industriekapital des damals boomenden Griechenlands. Heute erinnert sie an eine Totenstadt. Sie hätten eine Industriekolonie auf einer Schafweide errichtet, meint der Vater verbittert. Ein Bild, das bis ins gegenwärtige Kino Griechenlands nachwirkt. Tsangari, Lanthimos und die anderen haben innerhalb kürzester Zeit vierzig Jahre Filmgeschichte aufgeholt. Dass sie dasselbe Schicksal wie Aspra Spitia ereilt, steht nicht zu befürchten.

■ Neues griechisches Kino: ab 4. 5. im Arsenal, www.arsenal-berlin.de