Umgeben von Klagen

THEATER Bevor sich das Theatertreffen mit Sarah Kane (Regie: Johan Simons) einschloss, erlebten die Besucher zur Eröffnung den Einbruch der Wirklichkeit. Studierende der Ernst Busch Schauspielschule besetzten die Bühne

„Wir brauchen sie alle“, rief Neumann den entzückt nickenden Theaterschaffenden im Publikum zu

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nein, dies war keine bestellte Inszenierung von der Occupy-Bewegung wie auf der Berlin Biennale, dies war eine spontane Demonstration, so echt wie das laute Zwitschern der Vögel in den Kastanien. Studenten der Schauspielschule Ernst Busch hatten sich zur Eröffnung des Theatertreffens am Freitagabend vor das Haus der Berliner Festspiele gelegt.

Sie protestierten damit gegen eine Entscheidung, die zeitgleich im Berliner Abgeordnetenhaus verhandelt wurde: Das Projekt eines Neubaus für die Schule, die damit statt vier verstreuter Standorte endlich einen zentralen an der Chausseestraße bekäme, steht auf der Kippe.

Obwohl schon viel Geld in die Planung investiert wurde, möchte die SPD-Fraktion nun doch lieber die alten Räume sanieren statt neue zu bauen, ohne die Behauptung, das käme billiger, belegen zu können. Das Abgeordnetenhaus hat die Entscheidung auf den 14. Juni verschoben. Die Studierenden, die auch am Bauplatz campieren und dort bis zum heutigen Montag Theater spielen, nutzten das Theatertreffen gut, sich im Bündnis mit der anwesenden Schauspielprominenz zu zeigen.

Applaus und Oberender

Und sie erhielten auf der Bühne dann auch das erste Wort und viel Applaus, bevor Thomas Oberender, Intendant der Festspiele, und der Kulturstaatsminister Bernd Neumann das Theatertreffen eröffneten.

Dieser kurze Einbruch der Wirklichkeit war eine gute Steilvorlage für die vorbereiteten Reden dieses Abends. Wollten doch sowohl Thomas Oberender wie Bernd Neumann das Theatertreffen, das der Bund finanziert, als ein Bekenntnis der Politik, für das Theater einzustehen, markieren.

Oberender zeichnete das Bild einer imaginäre Klagemauer, die das Festival umgäbe, bestückt mit den Klagen der von Kürzungen oder Schließungen bedrohten Theater. Neumann betonte, dass 19 Millionen Theaterzuschauer im Jahr alles andere als eine Minderheit seien – und trotz Wirtschaftskrise auf keines der 145 öffentlich geförderten Theater zu verzichten sei. „Wir brauchen sie alle“, rief er in die Ohren der vielen entzückt nickenden Theaterschaffenden im Publikum.

Eine schöne Rede. Auch wenn es meist die Länder und Kommunen sind und nicht der Bund, dem konkret die Förderung obliegt.

Dann aber, nach diesem kurzen Ausblick nach draußen, ging es mitten hinein in eine doppelt verschlossene Welt, eingeschlossen in der Kunst der Sprache und im Bild einer Anstalt, in die man die Schwierigen und Verwirrten abgeschoben hat. Johan Simons, Regisseur und Intendant der Münchner Kammerspiele, eröffnete das Theatertreffen mit einem Triptychon von Sarah Kane „Gesäubert. Gier. 4.48 Psychose“: Drei kurze Stücke, deren Interpretation ihm unterschiedlich gut gelungen ist.

Den Szenen von Verstümmelung, Folter und sexuellen Exzessen, mit denen die junge Autorin Sarah Kane in „Gesäubert“ verschwenderisch umging, begegnet Simons mit einer Verschiebung in eine infantile Fantasie. Tinker, der Zungenabschneider, wird zu einer dicken rothaarigen Göre (Annette Paulmann), die alle terrorisiert, gegeneinander ausspielt, erniedrigt, zum Verrat zwingt und keine Liebe und Freundschaften neben sich erträgt.

Das lässt erstmals die Nähe von Grausamkeit und Komik ahnen, die Simons in „Gier“ noch mehr auf die Spitze treibt. Dies groteske Funkeln der Verzweiflung, dieser auch selbstironische Blick auf die Gier nach Schmerz, der drohende Unterton, mit der Leiden als bewusste Zumutung ausgestellt wird, ist zwar neu in der Auslegung von Sarah Kane und somit auch ein Zugewinn. Aber viel von dem, womit sich Sarah Kane Ende der neunziger Jahre in die Seelen ihrer Leser und Theaterzuschauer brannte, die Gier nach Erfahrung, Wirklichkeit, Auflösung, Entgrenzung und Nähe vor allem geht dabei auch verloren.

Poetische Kraft

Erst mit dem letzten Stück „4.48 Psychose“ wird die poetische Kraft ihrer Sprache, die auf ungeheuer kurzer Strecke im Innersten berühren konnte, wieder virulent – und zwar äußerst meisterhaft.

Sandra Hüller und Thomas Schmauser sind zusammen mit einem Kammerorchester auf der Bühne, Carl Oesterhelt hat für fünf Streicher und Piano eine klassisch anmutende Musik geschrieben, die den Text zunächst wie ein Libretto trägt. Schmauser im dunklen Anzug sitzt an einem Pult davor und steigt gepresst und beherrscht in das Protokoll einer Psychose ein, während Sandra Hüller als strahlende Solistin zwischen den Musikern lange stumm bleibt.

Die orchestrale Gewalt des Textes, sein Anschwellen und Verebben, werden zu einer körperlich spürbaren Sensation. Die Positionen von Patient und Arzt, von betroffener und beurteilender Instanz, von innen und außen, von Frau und Mann fließen zwischen Sandra Hüller, als sie endlich in den Text einsteigt, und Thomas Schmauser hin und her.

Die Zuschreibungen von Opfer, Täter und Zuschauer, auf die der Text die Erfahrung der Welt an einigen Stellen erschreckend eng zusammenschnürt, lösen sich in diesem Sprachstrudel wieder auf. In einer Form, in der die Körper nur sparsam agieren, bündelt sich hier doch so viel Energie und Emotion, dass man sich wünscht: Wäre so das Theater doch öfter.

■ Montag-, Dienstag- und Mittwochabend zeigt das Festival „Macbeth“ in der Inszenierung von Karin Henkel aus den Münchner Kammerspielen (Haus der Berliner Festspiele, Große Bühne)

■ Gesamtprogramm des Theatertreffens unter www.berlinerfestspiele.de