Verkehrter Wald

SKULPTUR Der erhängte Wald: Michael Sailstorfer in der Berlinischen Galerie

Kopfüber hängen fünf Bäume von einer zehn Meter hohen Decke. Ihre Stämme sind an einem Gerüst aus Stahlträgern montiert, Motoren versetzen die Gewächse in eine langsame Drehbewegung, lassen die Baumkronen zäh und unermüdlich über den Boden schleifen. „Erst einmal ein unglaublich brutales Bild“, sagt Künstler Michael Sailstorfer, „wie ein abstraktes Ballett“, ergänzt Kurator Guido Fassbender.

Doch in der kruden Szenerie des erhängten Waldes sollen, so wollen es Künstler und Kurator, Rohheit und Poetik eine Verbindung finden. In den cleanen White Cube des Ausstellungsfoyers wurde die Natur geholt und mit ihr die Sinnlichkeit des Organischen. Vor dem sterilen Weiß der Museumswand winden sich Geäst und Blätter in sanften Grün- und Erdtönen zu immer neuen Mustern, ein leichtes Knacken und Rascheln beschallt den Raum, es duftet nach Harz und Laub. „Forst“ nennt Sailstorfer diese Arbeit.

Der Wald scheint ein attraktives Sujet zu sein. Schon zum dritten Mal in diesem Jahr nimmt sich eine Berliner Institution des Themas an. Anfang des Jahres zeigte das Jüdische Museum in der Ausstellung „Heimatkunde“ mehrere Arbeiten, die den Wald zu einem Motiv von Herkunft und Identität erklärten. Julian Rosefeld spürte in seiner Filminstallation mit teils düsteren, teils ironischen Bildern dem Mythos Wald in der deutschen Kulturgeschichte nach. Mit Heimatfilmen, Volksmusik, Reisegeschichten und einer Ansammlung von Kunstwerken von Caspar David Friedrich bis zu Anselm Kiefer klärte auch das Historische Museum mit der Ausstellung „Unter Bäumen“ über die tief verwurzelte Liebe der Deutschen zum Naturreich auf. Der Wald, so postulierten die Macher beider Ausstellungen, ist ein bedeutendes Motiv in der Suche nach kultureller Identität, und so wird er geliebt, geschützt, ersehnt und – verklärt, bis in die Gegenwart.

Auch Sailstorfer behandelt diesen Mythos, schwebt doch vor dem inneren Auge des Betrachters das Bild eines tiefen, urwüchsigen Waldes, während er neben den erhängten Bäumen steht. Gerade das Spiel mit diesem romantischen Bild gibt der Installation etwas Verstörendes. Michael Sailstorfer will damit dem Verhältnis zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen nachspüren.

Sailstorfers Bäume sind abhängig von einer Apparatur aus massiven Stahlträgern und Drehmotoren, all ihre Bewegungen finden in einer elektromechanischen Kraft ihren Ursprung. Damit stellt er das Erschaffene dem Gewachsenen gegenüber. Anstelle eines Antagonismus sollen die getrennten Sphären in seinem Kunstwerk eine Balance finden.

Für seine zweite ausgestellte Arbeit „Schwarzwald“ wählte Sailstorfers die abstrakteste und künstlichste Figur, seit Malewitsch den Suprematismus ausrief: ein schwarzes Quadrat. In einem Waldstück – auf Baum, Gestrüpp, und Laub – zeichnete er in Schwarz einen Kubus nach, der langsam wieder von der Natur überwuchert wird. In einer Viedeoaufnahme lässt sich dieser Wiederaneignungsprozess verfolgen. Das Künstliche dominiert das Natürliche und das Natürliche wiederum das Künstliche. Der Betrachter kann dieses Wechselspiel beobachten, nicht viel mehr. Aber sehr schön.

SOPHIE JUNG

■ Michael Sailstorfer, Berlinische Galerie, tägl. außer Di. 10–18 Uhr, bis 8. 10. 2012