Fotogen besonders im Erfolg

MIGRATION Die Ausstellung „Russen Juden Deutsche“ im Jüdischen Museum beruht auf einer Langzeitdokumentation des Fotografen Michael Kerstgens. Seit 1990 begleitete er russische Einwanderer

Viele der Neuankömmlinge hatten alles auf eine Karte gesetzt

VON BARBARA KERNECK

Sogar ihre Blumensträuße erinnern an Zuckerguss, als Braut und Brautjungfer im Jahre 1992 in der Synagoge in der Pestalozzistraße ankommen. Ihre von Lebensfreude strotzenden Figuren drohen die breit aufgerüschten weißen Kleider zu sprengen. Im Hintergrund steht wie geschnitzt eine weiße Kutsche – die allererste bei einer jüdischen Hochzeit in Berlin.

Als ab 1990 Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland strömten, waren viele der eher an Understatement gewöhnten „Alteingesessenen“ in den hiesigen jüdischen Gemeinden von deren Stil frappiert. Die Ankömmlinge hingegen empfanden ihre neue gesellschaftliche Umgebung als kalt und herablassend. Trotzdem trauten sich einige, wie die Zahnärztin Taya Mackin, die Braut aus obiger Szene, einen takt- und verständnisvollen deutschen Fotografen in ihr Leben einzulassen. Es war Michael Kerstgens. Damals für GEO und Stern, später für das Jüdische Museum Berlin begleitete er die Suche dieser Personen nach neuer Identität in einer Langzeitdokumentation. Die Resultate stellt das Museum jetzt aus: „Russen Juden Deutsche“.

Kerstgens hat die analoge Technik vom Anfang bis heute fortgeführt. Auch die Körnigkeit der 80 Schwarz-Weiß-Fotografien bleibt sich gleich. Sie erzählen die Geschichte weiter, die in den Räumen nebenan abbricht, in der multimedialen Schau über die 20er Jahre: „Berlin Transit“. Wie damals die neue Sowjetunion, verließen Juden und Jüdinnen wieder ab 1990 mit fliegenden Fahnen deren Nachfolgestaaten und wichen vor dem dort grassierenden Antisemitismus. Offiziell als eine Art Geste der Reue für das von Deutschland an ihren Verwandten begangene Unrecht, verlieh ihnen die Regierung des wiedervereinigten Deutschland den Flüchtlingsstatus. Die Bundesrepublik verdankt heute 80 Prozent ihrer in Religionsgemeinschaften organisierten Juden der darauf folgenden Einwanderungswelle.

Viele der Neuankömmlinge setzten alles auf eine Karte. Ein zierlicher Herr mit folkloristisch besticktem weißem Oberhemd stützt auf einem Foto aus dem Jahr 2000 in der Regierungsaufnahmestelle Oberpfalz seinen Arm auf die Tischkante, die Augen hinter der großen dunkel gerahmten Brille halb geschlossen. Wladimir Kowalewski (damals 66) war russisch-orthodoxer Christ, dessen Aufnahmeantrag wegen seiner jüdischen Ehefrau Rita stattgegeben werden sollte. Doch das Nachbarfoto zeigt ihr kahles Grab. Er musste alleine neu beginnen.

Kerstgens wurden naturgemäß Schnappschüsse eher dort gestattet, wo Erfolgsgeschichten zu erzählen waren. So sieht man an einer Wand Wladimir Kaminer im Jahre 2001 im Café Burger die Russendisko zelebrieren nebst seiner eigenen Russizität. Von ihm heißt es, er nähere sich einer Synagoge höchstens mit Tarnkappe. Ebenso wie Kaminer blieben die meisten der aus der Ex-UdSSR eingewanderten Juden „säkular“: von 180.000 Personen schlossen sich nur 80.000 den hiesigen Einheits- oder liberalen Gemeinden an. Ein Hinweis darauf fehlt in der Ausstellung.

„Aber letztlich ist es für jeden Juden wichtig, auf einem jüdischen Friedhof begraben zu werden“, kommentiert diesen Umstand gern und immer lächelnd Eleonora Shakhnikova (41), die Integrationsbeauftragte der jüdischen Gemeinde in Berlin. Sie gibt zu bedenken: „Auch wenn sich Familien in der Sowjetunion weit vom Glauben entfernt hatten, wissen ihre Nachfahren noch, was ‚Matze‘ bedeutet, und erzählen von den jüdischen Gerichten ihrer Großmütter.“

„Das Judentum war uns damals so fremd wie der Parteitag der UdSSR“, sagte Mikhail Troychanskiy einmal über seine Jugend in Moskau zu dem Fotografen Kerstgens. Ihre erste Begegnung fand 2002 in Berlin statt, wo Troitschanski, wie er sich damals schrieb, mit Gebrauchtwagen handelte. Seine ganze Familie empfand sich gerade auf dem Weg nach oben und ließ sich gern fotografieren. Nur waren die Kinder von den Fragen genervt, die sie ständig hörten: „Als was fühlt ihr euch eigentlich: als Russen, Juden oder Deutsche?“ Mikhail begann die Welt zu bereisen und merkte, dass man in Kanada alle Bürger einfach als Kanadier behandelte, gleich ob sie Schlitzaugen oder eine krumme Nase hatten. Troychanskiy fackelte nicht: er und seine beiden Söhne sind heute erfolgreiche Geschäftsleute in Toronto. Die Familie lebt auf großem Fuß, ist fotogen geblieben und sehr religiös geworden.

■  „Russen Juden Deutsche“ im Jüdischen Museum Berlin, bis 15. Juli

■  „Neues Leben: Russen – Juden – Deutsche. Fotografien von Michael Kerstgens“. Mit 6 Essays, Kehrer Verlag, 136 Seiten, 29,90 €