Feuchte Kiesel im Mund

CANNES CANNES 2 „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson erzählt zitatreich von tiefen Versehrungen

VON CRISTINA NORD

Es braucht nur 15 Minuten Bootsfahrt, und man gelangt in eine andere Welt. Wenige Kilometer vor der Küste von Cannes liegen die Îles des Lérins, und wer einen Nachmittag in einer felsigen Bucht auf Sainte Marguerite verbringt, wird von einem nostalgischen Côte-d’Azur-Gefühl angeweht. In Cannes mit seiner 70er-Jahre-Kongressarchitektur sucht man danach vergeblich, doch auf Sainte Marguerite blickt man auf türkisfarbenes Wasser.

Und auch wenn Wes Andersons „Moonrise Kingdom“, der Eröffnungsfilm, auf einer ganz anderen Insel Neuenglands spielt, ist der Ausflug eine schöne Vorbereitung. Beinahe möchte man es den jungen Helden gleichtun und den Schriftzug „Moonrise Kingdom“ mit hellen Kieseln auf den Boden schreiben oder sich einen der Steine in den Mund stecken. Denn „wenn man sehr durstig ist“, sagt Sam, der neunmalkluge Pfadfinder und einer der beiden Hauptfiguren (Jared Gilman), in einer der Szenen,„lutscht man am besten an einem feuchten Kiesel.“

Die Nostalgie passt. „Moonrise Kingdom“ spielt 1965, wie eine Art Insel-Ciccerone mit direktem Blick in die Kamera erklärt, und Wes Anderson bringt das Zeitkolorit mit der ihm eigenen Exzentrik zur Geltung. Bei der Pressekonferenz sagt der Regisseur über seine beiden jungen Helden: „1965 sind sie 12 Jahre alt. Das heißt: Wenn sie 18 werden, werden sie in einem komplett veränderten Amerika leben.“

Nostalgie und Exzentrik

Sam und seine Gefährtin Suzy (Kara Hayward) reißen aus, verlieben sich und streunen über das fiktive Eiland namens New Penzance. Sie hat bei ihren Eltern eine Broschüre gefunden: „Coping with the very troubled child“, deren Inhalte sie auf sich bezieht und sich verraten fühlt; er ist Waise, und seine Pflegeeltern kündigen ihren Dienst auf, kaum benachrichtigt sie der lokale, etwas trottelige Polizist (Bruce Willis) von Sams Verschwinden.

Anderson ruft viele Motive aus Kinderbüchern auf, nutzt zeitgenössische und weniger zeitgenössische Musik (Benjamin Britten spielt eine Rolle), an Zitaten herrscht kein Mangel. Ein Foxterrier sieht aus wie Struppi aus den Comics von Hergé, sein Name aber ist Snoopy. Hier zeigt sich, wie der Regisseur mit den Reminiszenzen verfährt: Nachdem er etwas hat anklingen lassen, nimmt er es auseinander, setzt es neu zusammen oder verschiebt es in unerwartete Richtungen.

Die Erwachsenen rauchen ohne Unterlass, Bill Murray spielt Suzys Vater. Frances McDormand gibt die Mutter; mit ihrem Mann und ihren Kindern spricht sie oft via Megaphon. Die Idee dazu stamme von dem Co-Drehbuchautor Roman Coppola, sagt Anderson, und man kommt in diesem Augenblick der Pressekonferenz nicht umhin zu denken, dass es sicher nicht immer ein Spaß war, der Sohn von Francis Ford Coppola zu sein. Tilda Swintons Figur heißt einfach nur „social services“, Jugendamt, und das ist sie: eine in der Wolle gefärbte Bürokratin. Mit ihr kommt das Unheil, das vorher von Bildwitz und zarter Verschrobenheit verdeckt war, zum Vorschein. Der Film erzählt von so tief sitzenden Versehrungen, dass es eine Sturmflut und einen, so Bill Murray, „Die-hard-Augenblick“ für Bruce Willis braucht, um größeres Unheil abzuwehren. Am Ende der Pressekonferenz antwortet Anderson auf die Frage, in welcher der Figuren er sich wiedererkenne: „in Suzy“. Und sagt dann: „Ich habe die Broschüre“ – gemeint ist „Coping with a very troubled child“ – „bei uns zu Hause auf dem Kühlschrank gefunden. Ich war zwar nicht das einzige Kind im Haus, aber ich wusste, das galt mir.“