Schneewittchen von Orleans

FANTASY In „Snow White and the Huntsman“ von Rupert Sanders werden neben dem Grimmschen Märchen noch viele andere populäre Mythen verwurstet

An der Besetzung der Titelrolle mit der Heldin der „Twilight Saga“ wird klar, dass deren Zielgruppe angesprochen wird

VON WILFRIED HIPPEN

Zurzeit sind in Hollywood wieder die Märchen der Gebrüder Grimm in Mode. Im letzten Jahr wurde in „Red Riding Hood“ aus „Rotkäppchen“ ein düsteres Ödipus-Drama und erst vor acht Wochen kam mit „Spieglein, Spieglein“ eine weitere Neuinterpretation von „Schneewittchen“ in die Kinos. Während dies ein bunter und gut gelaunter Bilderbogen des indischen Regisseurs Tarsem Singh war, bei dem Julia Roberts als eher eitle als böse Königin mit ein paar schönen selbstironischen Lachern allen anderen die Show stahl, kommt „Snow White and the Huntsman“ sehr düster und ernsthaft daher. Nicht nur an der Besetzung der Titelrolle mit der Heldin der „Twilight Saga“ Kristen Stewart wird deutlich, dass hiermit genau jene Zielgruppe angesprochen werden soll, die jene schwülstigen Vampirfilme zu den größten Kinoerfolgen der letzten Jahre machte. Diese jungen Mädchen und Frauen wollen im Kino ergriffen werden. Und so zählen in „Snow White and the Huntsman“ nur die ganz großen Gefühle, Ironie hat da nichts verloren. Zum Teil gibt es sogar direkte Bezüge zur „Twilight-Serie“. So hat Kristen Stewart auch hier die Auswahl zwischen zwei attraktiven Verehrern und kann sich lange nicht zwischen ihnen entscheiden. Dort waren es Vampir und Werwolf, hier sind es der Prinz Nicht nur an der Besetzung der Titelrolle mit der Heldin der „Twilight Saga“ Kristen Stewart wird deutlich, dass hiermit genau jene Zielgruppe angesprochen werden soll, aus dem Märchen und der Jagdmann aus dem Filmtitel.

Dieser Titel gibt schon einen Hinweis darauf, dass man es hier nicht unbedingt mit einer werktreuen Adaption zu tun hat. Aus der Vorlage bleiben nur einige Grundelemente erhalten: Das Spieglein an der Wand wird von der bösen Königin befragt, die Schönste im ganzen Land muss vor ihr in den Wald fliehen und trifft dort die sieben Zwerge. Sie isst den vergifteten Apfel, aber ein Kuss macht alles wieder gut. Doch diese Kerngeschichte wird überdeckt durch ein Konglomerat von Zitaten aus den unterschiedlichsten populären Mythen. So wird Schneewittchen im Wald schnell eine weibliche Version von Robin Hood, die für die Armen gegen die Reichen kämpft und schließlich entwickelt sie sich sogar zu einer Variante der Jungfrau von Orleans, die mit Schwert und glänzender Rüstung auf einem edlen Pferd in die Schlacht reitet. Da ist nicht mehr viel von der schönen und unschuldigen Prinzessin übrig. Statt dessen zieht Kristen Stewart schnell die Lederhosen an und wird eine Actionheldin, die jede Gefahr bewältigt und dabei auffällig oft im Matsch landet.

Die Zitierwut der Drehbuchschreiber verhindert, dass ein dramatischer Sog entstehen kann. So zerfällt der Film in Episoden, die eher angehäuft werden, als dass sie eine erzählerische Entwicklung deutlich machen. So gibt es einen Kampf mit einem Troll, der sich aus Mittelerde ins Märchenland verirrt hat, einen Besuch im Feenreich, bei dem außer ein paar zarten Wesen nichts gewesen ist und den Tod eines weißen Hirschgottes, der keinerlei Konsequenzen nach sich zieht, dafür aber bis ins Detail (des riesigen, schwammartigen Geweihs) aus einem Zeichentrickfilm von Hayao Miyazaki geklaut wurde.

Rupert Sanders hat sich als Werbefilmer einen Namen gemacht, und viele Sequenzen seines ersten Spielfilms wirken wie in sich geschlossene Clips. Einige davon sind ihm grandios gelungen. So etwa jene, in der die böse Königin (mit der Krone auf dem Kopf) in eine weiße Flüssigkeit eintaucht und als eine erstarrte Eisfigur aus dem Bad steigt. Charlize Theron ist eine wunderbar schreckliche Königin, und so sind die wirklich erschreckenden Momente des Films nicht jene, in denen Kristen Stewart wieder einmal im Wald vor irgendeiner dunklen Bedrohung davonläuft, sondern die, in denen Charli Rupertze Theron einfach nur schlechte Laune hat und diese zum Beispiel an ihrem Albinobruder auslässt, dessen inzestuöses Abhängigkeit von ihr zu den irritierenden Elementen des Films zählt.

Doch der beste Dreh des Films ist jener, die sieben Zwerge von einigen der besten britischen Charakterdarstellern spielen zu lassen. Bei allen Monstren, Hexenzaubereien und digitalen Märchenlandschaften besteht der wirkungsvollste Filmtrick darin, die Gesichter von Bob Hoskins, Ray Winstone, Ian McShane und anderen aus Genrefilmen bekannten Briten so mit kleinwüchsigen Körpern verwachsen zu lassen, dass sie tatsächlich wie ziemliche ruppige und sehr komische Zwergen wirken. Die erste Begegnung von Schneewittchen und den Zwergen ist übrigens in beiden neuen Adaptionen identisch: Die Heldin und ihr Begleiter geraten jeweils in eine Falle der Zwerge und hängen Hals über Kopf vor ihnen. Die Möglichkeiten, das Märchen neu zu erzählen, scheint also doch begrenzt zu sein.