Auf die Kuratoren kommt es an

KUNST, DISKURS UND KINO Im Haus der Kulturen der Welt fand zum zweiten Mal das Berlin Documentary Forum statt

Das Forum ist ein State-of-the-art-Kunstraum, ein Raum der konstanten Überforderung, der sich nicht mehr ganz in den Dienst der Kunst stellt

VON LUKAS FOERSTER

Erinnerungen im Tausch gegen Bilder: Der japanische Underground-Regisseur Masao Adachi erklärte sich bereit, von dem französischen Künstler Eric Baudelaire porträtiert zu werden, wenn der im Gegenzug für ihn Filmaufnahmen im Libanon macht. Denn Adachi darf Japan nicht mehr verlassen, seitdem er 2001 wegen Vergehen gegen das Reisepassgesetz verurteilt wurde.

Vorher hatte er 28 Jahre lang im Nahen Osten gelebt, sich an terroristischen Aktionen militanter Linksextremisten zumindest mittelbar beteiligt und fast vollständig mit dem Filmemachen aufgehört – überlebt hat von seinen sporadischen Arbeiten dieser Phase gar nichts. Jetzt will er mit Hilfe Baudelaires einen Film über den Arabischen Frühling drehen.

Das erste Produkt dieser Zusammenarbeit aber ist Eric Baudelaires Porträtfilm mit dem langen Titel „The Anabasis of May and Fusako Shigenobu, Masao Adachi, and 27 Years Without Images“. Entlang der Erinnerungen des erstaunlich gefassten, fast ironisch zurück aufs eigene Leben blickenden Adachi und den ergänzenden Berichten May Shigenobus, der im Libanon geborenen Tochter einer japanischen Linksextremistin, die sich in den siebziger Jahren ebenfalls radikalen Guerillakämpfern angeschlossen hatte, rekonstruiert Baudelaire ein vielschichtiges Stück Zeitgeschichte.

Die Erzählungen verbindet er mit Ausschnitten aus alten Adachi-Filmen sowie mit neuen dokumentarischen Alltagsaufnahmen aus dem Libanon und aus Japan. In zutiefst verunsichernder Manier schneidet Baudelaire wieder und wieder, ohne jede Markierung, zwischen Beirut und Tokio hin und her; daraus entstehen flüchtige Bilder und instabile Montagen als visuelle Entsprechung zweier Biografien im toten Winkel der Weltgeschichte.

Baudelaires außergewöhnlicher Film war Teil des zweiten Berlin Documentary Forum, das jetzt im Haus der Kulturen der Welt stattfand. Genauer gesagt: Er ist Teil der Ausstellung „A Blind Spot“, die die Veranstaltung begleitete und die noch bis Anfang Juli zu sehen sein wird. In der Tat ist die räumliche Anordnung komplex; in der weitläufigen Haupthalle des Gebäudes läuft der gut einstündige Film geloopt in einer kleinen Black Box, die man, erst recht im Trubel des Documentary Forums, leicht übersehen kann: links geht es in den Ausstellungsraum, rechts vorbei gelangt man zum Hauptprogramm im Auditorium – oder gleich zum Café und zur Terrasse mit Bratwurstverkauf.

Zu allem Überfluss ist auf der anderen Seite der Halle noch eine zweite Black Box aufgebaut, da kann man, in Hassan Khans Videoinstallation „Jewel“, zwei Männern beim Tanz zu orientalischen Rhythmen zusehen.

Das Documentary Forum versteht sich als Schnittstelle unterschiedlicher dokumentarischer Praktiken in Kunst und Wissenschaft. Mindestens genauso interessant ist es als ein Ort der Proliferation und Mutation kuratorischer Arbeit: In erster Linie ist das Forum ein State-of-the-art-Kunstraum, ein Raum der konstanten Überforderung, ein Raum, der sich nicht mehr (wie das auf ihre jeweils unterschiedliche Art sowohl das klassische Kino als auch das klassische Museum tun) ganz in den Dienst der Kunst stellt und hinter sie zurücktritt, sondern ein Raum, der sich in gewisser Weise immer selbst mitperformiert, was auch immer gerade in ihm ausgestellt oder vorgeführt wird.

Im Auditorium war zum Beispiel im hinteren Teil des Zuschauerraums eine zweite Leinwand aufgebaut, auf der das gesamte Festival über aufwändig kuratierte Kurzfilmprogramme projiziert wurden. Unter anderem waren da, zeitlich und räumlich parallel zu den Hauptveranstaltungen, Meisterwerke des zeitgenössischen Experimentalfilms wie Phil Solomons aus Szenen des Computerspiels GTA montierter „Rehearsals for Retirement“ oder Takashi Makinos hypnotische Noise-Montage „Generator“ zu sehen.

Die Herausforderung des Kuratorischen besteht dann gerade darin, einen derart – auch diskursiv – entgrenzten Raum neu zu ordnen, oder, um eine Formulierung Roland Barthes’ zu verwenden, die auch Harun Farocki in seinem Beitrag zum Forum aufgriff, dem Chaos wieder Struktur zu verleihen. Dies gelang zum Beispiel einer Serie von Vorträgen und Filmvorführungen, die der „Geste des Dokumentarischen“ auf die Spur zu kommen versuchten.

Farocki führte anhand zahlreicher Filmausschnitte vor, wie sich Fiktion und Dokumentarisches selbst in einzelnen Einstellungen wechselseitig durchdringen können; der Filmwissenschaftler Volker Pantenburg konzentrierte seinen Beitrag auf eine einzige Kameraoperation: den horizontalen Schwenk, der die filmische Welt gleichzeitig öffnet und perspektiviert. Und der Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn zeigte seine NDR-Produktion „Weihnachten auf St. Pauli“: Trinker und Halbweltgestalten versammeln sich Heiligabend 1967 in einer Hamburger Kneipe, Wildenhahns bewegliche Kamera drängt sich niemandem auf und fängt doch wie nebenbei ganze Melodramen ein.

■ Ausstellung „A Blind Spot“, Haus der Kulturen der Welt, bis 1. Juli