Lust am Text, Freude an der Collage

SPRACHKUNST Der Schriftsteller Ror Wolf erkundet „Die Vorzüge der Dunkelheit“ und taucht daraus mit einem grandiosen „Horrorroman“ auf

Die Abenteuer, die es bei ihm zu bestehen gilt, sind Abenteuer des Unerwarteten auf der Ebene des Satzes

VON TIM CASPAR BOEHME

Ich bestellte mir noch ein Bier und sah, wie alles in sich zusammenfiel, zwischen zwei Schlucken sah ich alles in sich zusammenfallen und versinken.“ Katastrophen wie diese mit aufmerksamer Teilnahmslosigkeit zu verfolgen ist eine der Gaben, mit denen der namenlose Erzähler dieses Romans reichlich gesegnet ist. Anders wäre das große Durcheinander um ihn herum wohl auch kaum auszuhalten. Wobei die Sache am Ende vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie sie aussieht. Denn der Erzähler hat das Privileg, als Protagonist eines Romans des Schriftstellers Ror Wolf von seinen Erlebnissen Bericht zu erstatten, und bei Wolf können für gewöhnlich die unaussprechlichsten Dinge vor sich gehen, ohne dass man ernsthafte Konsequenzen befürchten muss.

„Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen“ lautet der Titel dieses „Horrorromans“. In den vergangenen Jahren hatte Wolf gelegentlich angekündigt, es werde altersbedingt – kürzlich wurde er achtzig – nicht mehr viel von ihm kommen. Jetzt kann man sich also über einen neuen Roman aus der Wirklichkeitswerkstatt des Autors freuen, der noch einmal sein geballtes demiurgisches Können demonstriert.

Schreckliches ereignet sich in diesem Buch, fast ständig und ganz nebenbei. Oder aber, wie es im letzten Satz heißt: „Manchmal geschah überhaupt nichts.“ Der Horror, von dem auf den vorangehenden Seiten zu lesen ist, speist sich aus seltsamen Geschehnissen aller Art. Körper werden zerteilt, wilde Tiere beißen Löcher in Menschen oder fressen sie vollständig auf, und selbst die Welt verschwindet das ein ums andere Mal, nicht ausschließlich beim abendlichen Bier im Gasthaus.

Doch der eigentliche Schrecken, der diesem Szenario, das ein Hieronymus Bosch auch nicht abstruser, und schon gar nicht mit so viel Humor hätte ausmalen können, zugrunde liegt, ist der Schrecken vor der Leere. Die Welt zu verschlingen ist dem Erzähler ebenso eine Leichtigkeit wie seine Fähigkeit, sie hervorzubringen. „Diese Welt bestand, wie ich später in einem meiner Aufsätze beschrieben habe, aus einer Reihe sehr schöner Worte, die mir immer dann einfielen, wenn ich sie nötig hatte.“

Ror Wolf charakterisiert mit diesem Satz zugleich seine eigene poetische Strategie, und tatsächlich besteht die Welt, von der zu lesen ist, nur aus Wörtern. Gelegentlich kommen Namen echter Städte vor wie Chicago oder Tulsa, doch es könnten ebenso gut Fantasieorte sein, die dem Erzähler in den Sinn kommen. Von einem Lidschlag zum nächsten wechselt sein Aufenthalt, und auch die Dinge, die dort vor sich gehen, erinnern mehr an spontan zusammengesetzte Traumsequenzen als an in einen erzählerischen Zusammenhang gestellte Vorgänge.

Zudem kippt die Perspektive des Erzählers zwischen verschiedenen Positionen hin und her, innen und außen werden ununterscheidbar. „Am Ende hörte ich ein Geräusch wie ein Schaben. Die ganze Nacht schabte es schabte es schabte es, und am Morgen bemerkte ich plötzlich, dass ich es war, der schabte, ich schabte, ich schabte mich durch die Wand und verschwand.“

Wolf gehört zu den Vertretern einer fantastischen Literatur, die auf Illusionen jeder Art verzichten. Sein Wortzauber drückt ein großes Misstrauen gegen das sinnstiftende Erzählen aus, ohne der Lust am Text zu entsagen. Die Abenteuer, die es bei ihm zu bestehen gilt, sind Abenteuer des Unerwarteten auf der Ebene des Satzes. Dass er dabei auch handfeste Themen wie Vereinzelung, das Unbehagen der Geschlechter untereinander oder Gewalt verhandelt, ist kein Widerspruch.

Wolfs Wirklichkeit ist eine konsequent konstruierte, ganz wie seine an Max Ernst geschulten, diesmal wunderbar farbigen Collagen, mit denen der Band sehr großzügig ausgestattet ist. Hier gesellen sich Menschen, Tiere und Landschaften zueinander, manchmal in friedlicher, manchmal in feindseliger Absicht, aber nie so, wie man es erwarten würde. Bleibt die Bitte, es mögen weitere Horrorromane folgen.

Ror Wolf: „Die Vorzüge der Dunkelheit“. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2012, 272 Seiten mit 79 Collagen, 24,95 Euro