Eine Reise ans Ende der Nacht

TEENAGEDREAMS In ihrem Debütfilm „Atomic Age“ erzählt Héléna Klotz von Pariser Nächten und lässt dabei die Konventionen des Coming-of-Age-Dramas souverän hinter sich

Héléna Klotz gelingt in ihrem ersten Film ein jugendliches Lebensgefühl einzufangen, und unverbrauchte Bilder dafür zu finden

VON ECKHARD HASCHEN

Wie alle Teenager wollen Victor (Elliott Paquett) und Rainer (Dominik Wojcik) was erleben, Spaß haben. Diese Erwartung spiegelt sich bereits den Gesichtern der beiden ungleichen Vorstadtkids - Wodka und Red Bull haben sie in den Taschen - als ihr Zug noch weit vom Pariser Stadtzentrum entfernt ist, der Eiffelturm gerade erst am Horizont auftaucht. Victor, ein echter Schönling, ist bei aller jugendlichen Melancholie zuweilen noch so verspielt wie ein Kind. Aus seinem dringenden Wusch seine Unschuld zu verlieren, macht er aber - anders als man dies aus amerikanischen Teenagerfilmen kennt - nie das alles beherrschende Thema. Rainer gibt sich dagegen abgeklärter, inszeniert sich, ohne dass dies besonders aufgesetzt wirkt, als schwuler Dandy, stets ein Rimbaud-Gedicht auf den Lippen. Über den biografischen Hintergrund der beiden erfahren wir wenig; was Klotz interessiert, ist ihr Handeln im Hier und Jetzt. Und was sie dabei über sich selbst erfahren.

Im Dunkel der nur stroboskopartig erhellten Nacht eines Clubs scheinen die natürlichen Gesetze von Anziehung und Abstoßung weitaus stärker zu wirken als im grauen Alltag.

Da blitzt Victor, der dies gar nicht gewohnt zu sein scheint, mit einem Mal bei einem Mädchen ab. „Du bist schön“, sagt er ihr beim zweiten Versuch. Und sie antwortet nur: „Warum?“ Da fliegen, als Theo (Niels Schneider, bekannt aus Xaviers Dolans „Herzensbrecher“) die Szene betritt, plötzlich die Fäuste, obwohl doch eigentlich keiner der drei - Victor, Rainer und Theo - zu Gewalt neigt. Da sind sich die Figuren in einem Moment so nah, dass sie miteinander zu verschmelzen scheinen und im nächsten schon wieder so fern wie voneinander wegstrebende Atome.

Aber die Nacht besteht in diesem Film nicht nur aus Lichtblitzen und elektronischen Beats (die größtenteils Héléna Klotz‘ Bruder Ulysse beisteuerte). Am Ende geht es in einen Wald, den Klotz und ihre hervorragende Kamerafrau Hélène Louvart (“Pina“) als Zauberwald inszenieren, in dem sich schließlich - man mag dabei als Shakespeare denken - die wahren Gefühle offenbaren.

Manch einer fühlte sich bei diesem Film an Arbeiten von Robert Bresson und Gus Van Sant erinnert. Wobei das Bemerkenswerteste aber vielleicht gerade die Tatsache ist, dass Héléna Klotz gleich in ihrem ersten Film etwas sehr Eigenständiges gelungen ist: Nämlich auf selten wahrhaftige Weise ein jugendliches Lebensgefühl einzufangen, und - obwohl dieses sich bekanntlich fast ausschließlich aus Vorgegebenem speist - überraschend unverbrauchte Bilder dafür zu finden. Und ebenso erfrischende Dialoge, wie sie französische Filme immer noch am besten hinbekommen.

Wie der ebenfalls diese Woche anlaufende „This Ain‘t California“ (über jugendliche Skater in den letzten Jahren der DDR) ist „Atomic Age“ ein Film, der weit über den Bereich seiner vermeintlichen Zielgruppe (ein ohnehin viel zu selten hinterfragter Begriff) hinausweist. So wenig wie man in der DDR aufgewachsen sein muss, um von den „Rollbrettfahrern“ berührt zu sein, so wenig muss man schwul oder gerade in der Pubertät sein, um mit Héléna Klotz‘ jungen Helden zu mitzufühlen. Die Regisseurin und Drehbuchautorin, auf deren nächste Werke man mehr als gespannt sein darf, hat sich hier offensichtlich weniger gefragt, welchen möglichen Zuschauern eine bestimmte Geschichte in einer bestimmten Machart vielleicht gefallen könnte, sondern den Stoff gefunden und umgesetzt, der sie selbst am tiefsten berührt hat. Schließlich ist große Kunst - wie eigentlich seit Jahrhunderten bekannt - immer universell.