Stark, gewaltig und doch empfindsam

LYRIK Sein Leben war mit politischen Zäsuren verwoben: Der Sammelband „‚Die nennen das Schrei‘“ mit Thomas Braschs Gedichten zeigt die ganze literarische Wucht und Radikalität des 2001 verstorbenen Schriftstellers

Brasch, den einige während seiner Tätigkeit am Berliner Ensemble den guten und den bösen Geist des Schiffbauerdamms nannten, versuchte Grenzen zu sprengen, die dort begannen, wo aus einem Gedanken ein Wort, dann ein Satz wird

VON JENS UTHOFF

Wer durch sein Leben wollte, der musste durch sein Zimmer, ließ er ausrichten, via Neunzeiler. In seinem Zimmer, so stellt man sich vor, da war die Luft schwer vom Zigarettenrauch, vielleicht von den Gedanken, die kreisten. Er aber, Brasch, eingesperrt, einsam, getrieben, sah durch „Augenfenster“ in die Welt hinaus.

Es lohnt dabei unbedingt, dem Dichter und Schriftsteller Thomas Brasch in sein Zimmer zu folgen. Der Suhrkamp Verlag legte jüngst dessen lyrisches Gesamtwerk vor. „‚Die nennen das Schrei‘“ heißt der Band, dank dem man die gedanklichen Gebäude betreten kann, die der große und etwas in Vergessenheit geratene Berliner Schriftsteller hinterlassen hat.

Der Band umfasst seine Gedichte zu Lebzeiten wie auch das umfangreiche Werk aus dem Nachlass. Darunter finden sich zahlreiche Texte, die nicht eindeutig einer Gattung zuzuordnen sind: Prosagedichte, Collagen, an Aphorismen oder lyrische Skizzen erinnernde Texte.

Auf 1.030 Seiten wird die ganze literarische Wucht und Radikalität des 2001 gestorbenen Schriftstellers, Film- und Theatermachers erkennbar. Thomas Brasch war in seinem Werk kaum zu fassen, er war als Mensch kaum zu fassen. Ein einsamer Mann. Ein brodelnder, von einigen als unangenehm beschriebener Charakter. Ein pausenloser Denker mit Hang zum Exzess. Er fehlt.

Er fehlt vor allem deshalb, weil das Kunstverständnis, das er repräsentierte, heute in der deutschsprachigen Literatur so nicht mehr oft zu finden ist. Brasch wollte die unbedingte Kunst, die im stetigen Widerstreit mit sich selbst sein musste, dialektisch, ideologiefern, unversöhnlich. Er hat mit der Sprache, mit dem Leben, mit den Identitäten gerungen. In jeder Zeile des 1945 geborenen und in der DDR aufgewachsenen Schriftstellers schwingt dieser Kampf mit.

Zu seinem künstlerischen Schaffen bemerkte er einmal gegenüber Verleger Siegfried Unseld, er sperre sich nun wieder in sein „Wörtergefängnis“ ein, und so muss man sich die Arbeits- und Lebensweise – beides ist nur zusammen denkbar – des Thomas Brasch auch vorstellen: Mit der „Sucht zu denken, immer wieder Widersprüche zu finden, immer wieder Fehler zu machen, um aus diesen Fehlern mit einer neuen Qualität hervorzukommen“, wie Insa Wilke ihn in ihrer 2010 erschienenen Biografie „Ist das ein Leben“ zitiert.

In der zu den bekannteren Texten zählenden Hommage an den Schriftsteller Uwe Johnson („Halb Schlaf“) schreibt Brasch: „So lief ich durch das Finster / in meinem Schädelhaus: / Da weint er und da grinst er / und kann nicht mehr heraus.“ Brasch, den einige während seiner Tätigkeit am Berliner Ensemble den guten und den bösen Geist des Schiffbauerdamms nannten (wo er auch lebte), versuchte Grenzen zu sprengen, die dort begannen, wo aus einem Gedanken ein Wort, dann ein Satz wird.

Er führte „eine Existenz im und durch das Schreiben“, wie Wilke schreibt. In „Über Kunst“ heißt es: „Und ich. Bin nichts als meine Augen / Wenn ihr die 2 begrabt, begrabt ihr wen. / Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehn. (sic) / Ich will nicht sterben. Nur was taugen.“ Dasein ist bei Brasch zunächst bloße Wahrnehmung, diese gilt es in Wörter zu übersetzen. Die Widersprüche, die sich dann ergeben, werden zu seinem Werk – vielleicht lässt sich anhand dieser Gedichtzeilen nachvollziehen, warum Brasch einmal ein hochdotiertes Angebot eines Verlegers ausschlug, der dessen Autobiografie gerne publiziert gesehen hätte.

Ein überzeugter Sozialist

Die Biografie Braschs ist deshalb so interessant, weil sie eng mit der deutsch-deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben ist. Geboren wurde er 1945 im britischen Westow/Yorkshire, wo sich die Familie mit jüdischen Wurzeln im Exil befand. Nach der Rückkehr nach Deutschland ging Brasch in Cottbus und Naumburg zur Schule, ehe er zum Abitur nach Ostberlin kam. Brasch ist der Sohn des stellvertretenden DDR-Kulturministers Horst Brasch. Bruder Klaus war Schauspieler und starb mit 29 Jahren, seine Schwester Marion Brasch kennt man heute als Autorin (sie hat 2012 einen Roman über ihre Familie veröffentlicht) und Radiomoderatorin.

In der DDR bekam Brasch keinen Fuß auf den Boden, obwohl oder eher weil er überzeugter Sozialist war. Mit dem sozialistischen Realismus konnte er sich weder in der Kunst noch im Leben arrangieren. Erst warf man ihm „linksradikale Tendenzen“ vor, später lehnte der Rostocker Hinstorff-Verlag Prosatexte Braschs wegen „Verzerrung der Arbeitswelt und des Jugendlebens in diesem Staat“ ab.

Im Jahr 1968 wurde Brasch in der DDR wegen „staatsfeindlicher Hetzte“ inhaftiert. Über die Gefängniszeit schreibt er in „Friede den Wächtern“: „Schreie im Flur nach zehn Wochen oder zwölf: Ihr / Verbrecher. Das hastige Tappen der Füße über / den Teppich. Dein Ohr an der Tür. / No man is an island. Friede den Wächtern. / Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus.“

Als er Ende 1976 nach West-Berlin ausreisen durfte – gemeinsam mit Lebensgefährtin Katharina Thalbach, mit der er über 30 Jahre befreundet war –, wollte er dort nicht als DDR-Dissident gelten. Seine schriftstellerische Karriere begann: Im Westen reüssierte er mit Lyrik, Hörspielen, Theaterstücken, später auch mit Filmproduktionen. Die im Band enthaltenen lyrischen Publikationen „Kargo. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen“ (1977) und „Der schöne 27. September“ (1980) waren literarische Ereignisse. Sein Lebenswerk sollte ein Romanmonstrum namens „Mädchenmörder Brunke“ werden, das als 15.000-Seiten-Manuskript im Brasch-Archiv liegt. Bisher erschien es nur in einer schmalen, hundertseitigen Ausgabe im Jahr 1999.

Seine damalige Ankunft im Westen beschreibt Brasch wie folgt: „Ich bin mit 31 Jahren in dieses Land gekommen / Christus war 31 als er nach Jerusalem kam / ich will ihnen nichts predigen / ich kann ihnen mit meinen Wörtern nichts sagen, was sie verstehen (?) / ich komme aus dem deutschen Bauch in die harte deutsche Leber / sie haben Beschwerden deutsche / in Ost und West / im Osten sind sie unbeholfen im Westen sind sie flott / sie haben mich / gedruckt nicht geruckt“.

So sehr Braschs Leben, auch sein Wirken, mit politischen Zäsuren verbunden war, so sehr hat er es vermieden, sich als politischen Schriftsteller oder gar als Autor einer Littérature engagée (wie Jean-Paul Sartre die politische Prosa genannt hat) zu sehen. Was wiederum nicht hieß, dass sein Werk nicht hochpolitisch gewesen wäre: Für ihn war die schriftstellerische Tätigkeit politisch sui generis. Brasch wird etwa mit den Worten zitiert, die ganze politische Energie des Schriftstellers müsse in sein Werk fließen. Dass er gemeinsam mit Günter Grass, Sarah Kirsch und Peter Schneider 1980 einen Brief an den damaligen Kanzler Helmut Schmidt unterzeichnete, ist im Rückblick überraschend: Das Wettrüsten im Kalten Krieg steuerte damals einer neuerlichen Konfrontation entgegen – die Autoren forderten Schmidt auf, „der besonderen Verantwortung der Deutschen für den Frieden gerecht zu werden“. Viel mehr hatte Brasch mit seinen Mitunterzeichnern aber auch nicht gemein.

Heine, Rimbaud, Dylan

Mit dem Politikbetrieb kam Brasch ein Jahr später erneut in Berührung, als ihm für „Engel aus Eisen“ der Bayerische Filmpreis von Franz Josef Strauß überreicht wurde. Auf seine Dankesrede hätte die Jury wohl gern verzichtet: Brasch sprach über den „Widerspruch der Künstler im Zeitalter des Geldes“, der nur scheinbar zu lösen sei: „mit dem Rückzug in eine privatisierende Kunstproduktion oder mit der Übernahme der Ideologie der Macht“.

Als Figur im Literaturbetrieb lässt sich Brasch vielleicht mit Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder auch Arno Schmidt vergleichen. Es sind starke, gewaltige und doch empfindsame Zeilen, die man beim Blättern im Band mit Freude aufsaugt. Auch Braschs berühmteste Zeilen finden sich hier. In „Der Papiertiger“, einem in 18 Kapitel aufgeteilten Langgedicht, heißt es: „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin will ich nicht bleiben, aber / die ich liebe will ich nicht verlassen, aber / die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin / bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“

Oft finden sich bei Brasch Ähnlichkeiten mit späteren Diskurspop-Lyrics. Und obwohl Brasch nicht – wie etwa Brinkmann – der frühen Popliteratur zuzurechnen ist, gibt es doch Texte, die man dort einordnen könnte. Schaut man schließlich, welche Figuren durch seine Gedichte rauschen – Heine, Goethe, Shakespeare, Jim Morrison, Rimbaud, Kinski, Jagger, Dylan, Brecht –, so lässt sich nachvollziehen, in welch breitem kulturellen Feld Braschs Einflüsse lagen. Dank der Brasch-Archivarin Martina Hanf und der Autorin Kristin Schulz, die den Band herausgegeben haben, kann man den vor fast zwölf Jahren an Herzversagen gestorbenen Brasch nun wiederentdecken.

Thomas Brasch: „‚Die nennen das Schrei‘. Gesammelte Gedichte“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 1.030 Seiten, 49,95 Euro

Marion Brasch: „Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 400 Seiten, 19,99 Euro