Der Dribbelkünstler

Rüdiger Böhm hat bei einem Unfall beide Beine verloren, heute trainiert er den Nachwuchs des Karlsruher SC

KARLSRUHE taz ■ Die Beine stehen etwas seitlich neben dem Tisch. Das muss so sein und ändert nichts am Lächeln im jugendlichen Gesicht von Rüdiger Böhm. Der Mann strahlt Lebensfreude aus – und seine Worte belegen, dass der Schein nicht trügt. „Mit dem Job beim KSC ging ein Traum in Erfüllung“, sagt Böhm, seit dieser Saison Jugendsekretär beim Fußball-Zweitligisten aus Karlsruhe, und auch, dass er gerne lebt, „ohne Wenn und Aber“. Dabei hätte der ehemalige Sportstudent doch zu manchem „Wenn“ ganz guten Grund: Wenn der Lkw-Fahrer damals, am 21. April vor vier Jahren, besser aufgepasst hätte ... Oder wenn Böhm an diesem Tag das Mountainbike in der Garage hätte stehen lassen ... Ja, wenn dem so gewesen wäre, dann hätte Rüdiger Böhm heute seine Beine unter dem Tisch stehen und nicht daneben.

Es ist aber anders gekommen an diesem Tag, in dessen Folge Böhm das rechte Bein am Oberschenkel amputiert wurde und seit dem ihm auch der linke Unterschenkel fehlt. Aber solche Dinge will er nicht hören. „Ich hasse sinnlose Fragen“, sagt er vielmehr, „daher frage ich auch nie: Warum ich? Das bringt nichts.“ Ein Freund hat ihm nach der Operation die Realität vor Augen geführt. „Rüdiger“, hat der zu ihm gesagt, „das waren deine ersten 27 Jahre, ziehe jetzt einen Strich und beginne was Neues.“

Rüdiger Böhm hat es so getan: Er absolvierte den fünfwöchigen Lehrgang zum Trainer-A-Schein – trotz Behinderung und natürlich mit Erfolg. Und er lernte dabei Marco Pezzaiuoli, den Jugendkoordinator des Karlsruher SC, kennen. Dem gefiel, wie Böhm sich durchsetzte, durchkämpfte. Auch deshalb blieben die beiden in Kontakt, auch deshalb bekam Böhm schließlich seinen Job beim KSC. Böhm hat nie aufgegeben – selbst als ihm die Ärzte nur eine „dreiprozentige Überlebenschance“ zugestanden. „Der Lkw hatte mich überrollt. Ich saß auf dem Bordstein und sah, dass das linke Bein gebrochen und abgewinkelt war, aus dem Oberschenkel spritzte das Blut. Ich erlebte das live, bis ich wegen des Blutverlustes wegdämmerte“, erinnert er sich an den Unfall. Böhm redet über diesen Horror wie andere über einen Besuch beim Zahnarzt. 13 Stunden wurde er operiert, 100 Blutkonserven, das sind 50 Liter, dafür benötigt. „Aber wie die das Blut oben reingeschüttet haben, lief es unten wieder raus“, erzählt er. „Logisch, dass die amputieren mussten.“

Fünf Monate war Böhm im Krankenhaus. „Ich habe die Prothesen wie Sportgeräte betrachtet, wie Skier. Da fiel ich auch beim ersten Mal nach zwei Schritten auf die Schnauze“, erzählt der diplomierte Skilehrer von der ersten Begegnung mit seinen neuen Beinen. „Irgendwann hat’s dann auch mit denen geklappt“, fährt er fort und klopft auf seine Gehhilfen. Solche Sprüche bringt er am laufenden Band. „Am Anfang habe ich das gemacht, damit meine Freunde sehen: Der hat keine Beine mehr, aber sonst ist er der Gleiche.“ Jetzt macht er es, weil er so denkt, so fühlt. „Man muss immer das Positive sehen“, sagt der 31-Jährige. „Bis auf den Zufall, dass mir ein Lkw die Beine abgefahren hat, lief doch alles prima. Ich bin noch am Leben.“

Und er hat nach wie vor seinen Sport, allem voran den Fußball, seine große Liebe. Aktiv war er in der Bezirksoberliga, später entschied er sich, die eigene Karriere zugunsten des Trainerjobs für die U16-Mannschaft des SV Darmstadt 98 an den Nagel zu hängen. „Ich wollte als Trainer das richtig machen, was an mir und meiner Generation falsch gemacht wurde“, benennt er den Grund hierfür. Beim KSC kann er dies nun als Jugendsekretär ausführlich tun, neben administrativen Aufgaben steht Böhm dabei auch selbst auf dem Platz, auch wenn es „mit dem Dribbling schwierig wird“, wie er selbst kalauert. Sonst hat er keine Probleme mit dem Trainerjob. „Kinder akzeptieren das, wenn man offen redet“, sagt Böhm, „zudem kann ich gut erklären.“

Der 31-Jährige ist gerne Trainer, das spürt man, schon weil er ohne Luft zu holen spricht, wenn die Rede auf Jugendfußball kommt. „Beim KSC wird seit Jahren gute Nachwuchsarbeit geleistet, aber der Fußball entwickelt sich weiter. Dem müssen wir Rechnung tragen“, sagt er zum Beispiel. Und weiß auch, wie das geht: „Schnelligkeit und koordinative Fähigkeiten müssen vorhanden sein.“ Daran will er mit den Jugendlichen arbeiten – auch wenn er selbst keine Beine mehr hat. PETER PUTZING