in fußballland
: Die Rückkehr der Helligkeit

CHRISTOPH BIERMANN hat einen riesigen Bücherstapel gesichtet, einiges davon gelesen und weiß jetzt noch mehr als fast alles über das Spiel namens Fußball

Ein Kollege hat kürzlich gezählt, dass in diesem WM-Frühjahr insgesamt 98 Fußballbücher erscheinen, bei mir stapeln sich davon 102 Zentimeter auf der Fensterbank, weshalb es dunkel um mich geworden ist. Zu den Titeln, die den Ausguck schmälern, gehören solche, zu denen ich aus unterschiedlichen Befangenheitsgründen keine Auskunft geben kann. Oder belletristische Werke, die zu lesen ich noch nicht geschafft habe, inklusive diverser Gedichtbände. So manchen Titel hätte es ohne die WM bestimmt nicht gegeben, was in einigen Fällen besser so gewesen wäre, in etlichen anderen aber auch nicht.

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Ich hätte etwa nie gedacht, dass die Welt ein Buch über Abseits brauchen könnte, aber das von Rainer Moritz hat meine Annahme widerlegt. In „Abseits. Das letzte Geheimnis des Fußballs“ (Kunstmann, 152 S., 16,90 Euro) erklärt der Leiter des Literaturhauses Hamburg und ehemalige Schiedsrichter, weshalb Abseits gut ist. „Die Strukturregel Abseits gibt dem Fußball höhere Weihen und grenzt ihn von anderen Ballspielen ab“, schreibt er. Moritz liefert eine kurze Metaphysik des Abseits und einen kleinen (und verdammt schwierigen) Regeltest gibt’s auch. Tja, so was nennt man wohl ein Standardwerk.

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Wenn es mal nicht zur ganz großen Idee reicht, wird auf Buchseiten gerne dies und das vermengt, wie wir es von der Frikadelle kennen. Dass jedoch auch solch ein Fleischpflanzerl schmackhaft sein kann, zeigt der von Stefan Behr, Wolfgang Hettfleisch und Jürgen Roth verfasste Band „Wichtig ist, wer hinten hält. Fouls und Schwalben in der Politik“ (Aufbau Verlag, 284 S., 7,95 Euro). Meine liebsten Fundstücke in diesem Sammelsurium verstreuter Texte sind ein Interview mit Ritchie Blackmore, dem ehemaligen Gitarristen von Deep Purple, sowie ein freundlich vor sich hin perlendes Gespräch mit Eckhard Henscheid.

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Eine andere Form der Buchbulette ist der Sammelband unter einem Oberthema, hier: „Die verhinderten Weltmeister. Große unvollendete von Roberto Baggio bis Georg Weah“ (Kunstmann, 238 S., 16,90 Euro). Herausgeber Herbert Perl hat gute Autoren versammelt, wie Birgit Schönau, Fritz Tietz oder Ronald Reng, und sie schreiben gute Texte. Aber zwingend erschließt sich eine Sammlung von Kurzbiografien jener Spieler nicht, die keine Weltmeister wurden, selbst wenn man sie hübsch mit Fußball-Sammelbildern illustriert.

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Der tollste Bildband zur WM ist „2:0 0:6 – Die Stadien“ (Verlagshaus Braun, 176 S., 400 Abbildungen, 49,90 Euro) von Chris van Uffelen, das in eigener Tragetasche und aller Opulenz die WM-Stadien präsentiert sowie zugleich einen Rahmen von 2.000 Jahren Architektur- und Technikgeschichte herstellt.

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Hingegen könnte man sich fragen, wozu man eine Sammlung von 365 Fußballfotos braucht, die kein Kalender sein will. Dennoch ist „365 Fußballtage“ (Werkstatt-Verlag, 370 S., 24,90 Euro) ein überzeugender Bildband geworden. Kai Sawabe hat nämlich Fotos aus 70 Ländern in seinem Archiv und stets das Spiel insgesamt im Blick gehabt, von der Action-Szene im WM-Finale bis zum Straßenkick in Ulan-Bator.

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Sawabes Fotos hätten auch gut in jene Bücher gepasst, wo mit Fußball die Welt erklärt wird, das Spiel also in politische und kulturelle Zusammenhänge gesetzt wird. Einer der ersten Autoren, der dies im internationalen Rahmen gemacht hat, war 1994 der Engländer Simon Kuper in seinem (in Deutschland nie erschienenen Buch) „Football against the enemy“. Kuper reiste dazu um die Welt und berichtete aus Kiew oder Glasgow, Berlin oder Amsterdam, in welchem Zusammenhang Fußball und Politik stehen. Der Amerikaner Franklin Foer macht in „Wie man mit Fußball die Welt erklärt“ (Heyne, 270 S., 18,95 Euro) dasselbe und besucht teilweise sogar die gleichen Orte. Daher liefern einige Kapitel dem Interessierten nichts Neues, wenn er über die konfessionellen Konflikte zwischen den Fans von Rangers und Celtic in Glasgow oder die Rolle des FC Barcelona für ein katalanisches Selbstgefühl schreibt (das Foer zudem etwas verklärt). Interessant wird es eher an den Rändern, wenn er etwa den ukrainischen Nationalismus am Beispiel des Erstligisten aus Lviv erklärt oder den Zusammenhang von Hooliganismus und Kriegsverbrechen in Serbien sorgfältig aufarbeitet.

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Während Foer eilig von Schauplatz zu Schauplatz springt, nimmt sich Roger Repplinger ausführlich der Geschichte eines arabischen Fußballklubs in Israel an. „Die Söhne Sachnins“ (Bombus-Verlag, 495 S., 19,90 Euro) erzählt nicht nur von einem sportlichen Underdog, der sich trotz aller wirtschaftlichen Nachteile bis in die erste Liga kämpft. Bnei Sachnin ist für viele israelische Fans auch Feindbild, weil Fußball in Israel „nicht Entspannung ist, sondern Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Bedauerlicherweise ist seine Aufarbeitung jedoch viel zu umfangreich geraten.

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Wo Repplinger und Foer journalistisch arbeiten, sind die Autoren von „Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa“ (Klartext-Verlag, 349 S., 24,90 Euro) vor allem Historiker, deren Texte am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Uni Bonn entstanden sind. Schwergängig kommen die Beiträge mitunter daher, doch weil man sonst nichts über die Sozialgeschichte des Fußballs in Bulgarien, Rumänien oder Ungarns erfährt, leisten die meisten Artikel des von Dittmar Dahlmann herausgegebenen Bandes Grundlagenarbeit. Besonders lesenswert ist der biografische Abriss über den Torjäger Pepi Bican, der als legendärer tschechischer Spieler ab 1948 im sozialistischen Staat deutlicher Diskriminierung ausgesetzt war und erst nach 1989 rehabilitiert wurde.

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Eines der Bücher, das ohne die WM wohl nie in Deutschland erschienen wäre, ist die Sammlung von Kolumnen des brasilianischen Dramatikers Nelson Rodriguez. Unter dem albernen Titel „Goooooool! Brasilianer zu sein ist das Größte“ (Suhrkamp Verlag, 176 S., 7 Euro) findet man Zeitungsglossen aus den Jahren 1955 bis 1977, durch die man ein gutes Gespür für den brasilianischen Fußball jener Jahre bekommt.

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Auch Jorge Valdano steht in der Tradition eines südamerikanischen Fußballfeuilletonismus, der in Deutschland gerade erst entdeckt wird. Er war als Spieler nicht nur 1986 Weltmeister mit Argentinien und vor nicht langer Zeit Sportdirektor von Real Madrid, Valdano ist ein Großmeister der Fußballbetrachtung. Seit Jahren schreibt er für argentinische, spanische und englische Zeitungen, und das Beste davon ist in „Über Fußball“ (Bombus-Verlag, 265 S, 16,90 Euro) versammelt. Valdanos große Kunst besteht in der Sentenz, viele seiner Sätze könnte man auf T-Shirts drucken: „Von einer schwachen Mannschaft zu verlangen, dass sie angreift, bedeutet einem Armen zum Sparen raten.“ Selbst wenn man nicht seiner Meinung ist, hat Valdano stets brillante Argumente auf seiner Seite. Zugleich so kenntnisreich, meinungsstark und sprachmächtig ist selten über Fußball geschrieben worden. Und wo der Bücherstapel kleiner geworden ist und wieder Licht ins Zimmer fällt, lese ich bei Valdano: „Fußball ist für mich in erster Linie und im Wesentlichen ein Spiel. Deshalb handelt es sich um eine ernsthafte Sache.“

Fotohinweis: Christoph Biermann, 44, liebt Fußball und schreibt darüber