Die Mutter aller Niederlagen

HANDBALL Der THW Kiel verliert bei Ciudad Real das Finale in der Champions League. Für den auch anderweitig gebeutelten deutschen Rekordmeister ist es das unerquickliche Ende einer zwiespältigen Saison

AUS CIUDAD REAL ERIK EGGERS

Auf der einen Seite des Tisches saß Olafur Stefansson und weinte hemmungslos. Dieser Champions League-Sieg sei das perfekte Ende einer sehr schönen Zeit in Spanien, sagte der isländische Linkshänder. Mit acht Toren hatte er am Sonntag den größten Beitrag zum 33 : 27-Sieg gegen den THW Kiel geleistet. Nun also feierte er mit dicken Tränen seinen dritten Triumph für BM Ciudad Real in der europäischen Königsklasse, bevor er im Sommer wechselt – zu den Rhein Neckar-Löwen. Seinen ersten Titel hatte Stefansson 2002 mit Magdeburg gewonnen, sein Coach damals: Alfred Gislason.

Der saß nun am anderen Ende des Tisches. Mit regungsloser Miene, aber bewegtem Innenleben verarbeitete der 49-jährige Isländer das Scheitern. Die THW-Profis indes schämten sich ihrer Emotionen nicht. Filip Jicha, beim 39 : 34-Hinspielsieg noch der dominierende Werfer, lag minutenlang auf dem Parkett, während die Spanier um ihn herumtanzten. Auch bei Linksaußen Dominik Klein, der in der Schlussphase zwei Würfe verschenkt hatte, flossen Tränen.

Die THW-Spieler konnten kaum fassen, was da in den letzten 20 Minuten des Finalrückspiels über sie hinweggefegt war. Dass sie es nach einer 20 : 16-Führung in der 39. Minute doch noch weg geschenkt hatten.

Zehn Tore in den Schlussminuten zu verlieren in einem solchen Finale, wo die Unterschiede üblicherweise nur Details ausmachen, das hat es noch nie gegeben: Dieses Spiel in Ciudad Real wird als Mutter aller Niederlagen seinen Platz in den Geschichtsbüchern bekommen – so wie diese für den THW Kiel gleichzeitig spektakuläre wie skandalträchtige Spielzeit des Jahres 2008/09. Dem studierten Historiker Gislason war die Geschichtsträchtigkeit wohl bewusst: „Diese Niederlage schmerzt natürlich sehr. Über dieses Spiel werde ich mich noch in zehn oder 20 Jahren ärgern.“

Die Dramaturgie hatte sich niemand ausmalen können. Da war zunächst diese fantastische Torhüterleistung von Thierry Omeyer, der allein in der ersten Halbzeit 15 Mal parierte und die Zuschauer beruhigte, die teilweise die Kieler Profis wüst beschimpften. Auch Nikola Karabatic, Vid Kavticnik und Hendrik Lundström – höchstes Niveau. Aber dann ereignete sich dieser totale Zusammenbruch aller Kieler Spielsysteme. „Wir haben unser Tempospiel nicht mehr durchsetzen können und nur noch reagiert“, sagte Kavticnik hinterher. „Wir haben viel zu viele leichte Tore kassiert“, so Karabatic.

Die sportliche Bilanz dieser Saison fällt also, wie schon im Vorjahr, geteilt aus: Einerseits hat der THW Kiel die deutsche Liga dominiert wie keine andere Mannschaft zuvor und strebt einem neuen Punkterekord zu. Auch der deutsche Pokal wanderte zum dritten Mal in Folge an die Kieler Förde. „Andererseits haben wir ein Jahr auf dieses Spiel in der Champions League hingearbeitet und nun so verloren“, sagte Kreisläufer Marcus Ahlm, „das ist schon enttäuschend.“ Es sei „trotzdem eine gute Saison“ gewesen, darauf beharrte Gislason. Aber auch er weiß: Eine solche Chance, das beste Team der Welt zu werden, kommt so bald nicht wieder.

Schließlich ist immer noch unklar, ob der seit März im Raum stehende Vorwurf der Spielmanipulationen weitere Konsequenzen für den THW haben wird. Auch wiegt das Karriere-Ende von Kapitän Stefan Lövgren, der nach zehn Jahren in seine schwedische Heimat zurückkehrt, sehr schwer. Zudem wird das Duo Karabativ/Kavticnik nach Montpellier wechseln – das Gesicht der Mannschaft, des ganzen Klubs wird sich verändern.