Zwei Ausgeruhte vor dem Sturm

TENNIS Roger Federer erreicht in Australien das 22. Grand-Slam-Finale seiner Karriere. Dort trifft er auf Andy Murray, der sich reif fühlt, endlich die britischen Hoffnungen zu erfüllen

Für viele Briten ist die Frage nicht, ob Andy Murray einen großen Titel gewinnt, sondern nur, wann er ihn gewinnen wird

AUS MELBOURNE DORIS HENKEL

Es gibt mindestens ein Kompliment, das der Meister nicht gern hört: Er habe sooo viel Talent. Als er aber im Halbfinale am Freitag Jo-Wilfried Tsonga beim 6:2, 6:3, 6:2 nicht den Hauch einer Chance gelassen hatte, war Roger Federer in derart ausgelassener Stimmung, dass er mit ebendiesem Lob spielte. Als Interviewer Jim Courier wissen wollte, wie um Himmels willen man denn so gut sein könne, antwortete der Schweizer: „Das ist alles nur Talent – ich arbeite nicht. Das Einzige, was ich tue, ist, mich um die Kinder zu kümmern.“

Wenn er dabei ein ähnliches Händchen hat, dann wechselt er Windeln in fünf Sekunden. Tsonga war mit den ersten beiden Fünfsatzspielen seines Lebens in den Beinen phasenweise nicht mehr als der Zuschauer mit dem besten Blick auf die Bühne.

Gegen Ende der einseitigen Partie verharrte das Publikum in der Rod Laver Arena nahezu in stiller Bewunderung. Es war eines jener Spiele, bei denen Federer das Gefühl hatte, für jeden Ball alle Zeit der Welt zu haben, und genauso sahen seine Schläge dann auch aus. „Ich weiß nicht, wie viele Fehler er gemacht hat“, sagte Tsonga, „ich habe jedenfalls keinen gesehen.“

Nach dem 23. Halbfinale in Folge bei einem Grand-Slam-Turnier folgt für den Schweizer nun das 22. Finale, verbunden mit der Chance, nach zwei Jahren Unterbrechung wieder einen Titel in Melbourne zu gewinnen. Am Sonntag (9.30 Uhr, Eurosport) wird er das Vergnügen mit Andy Murray haben, und eines steht schon fest: Es wird die Begegnung zweier vergleichsweise ausgeruhter Spieler sein.

Federer hatte zwar nur einen Tag Pause bis zum letzten Spiel des Turniers und nicht zwei wie der Schotte, aber er sagt, darin sehe er für sich keinen Nachteil. Und die bisherige Bilanz gegen Murray interessiere ihn auch nicht; es gehe um dieses eine Spiel und um sonst gar nichts.

Wen es doch interessiert: Von zehn Begegnungen gewann Murray sechs, allerdings standen sich die beiden erst einmal in einem Grand-Slam-Turnier gegenüber, im Finale der US Open 2008. Das gewann Federer seinerzeit in drei vergleichsweise klaren Sätzen, aber die meisten Beobachter sind der Meinung, Murray werde diesmal ein härterer Herausforderer sein.

Courier attestiert ihm mehr Fitness und Erfahrung und meint, Murray fühle sich inzwischen wohler in den kritischen Momenten eines Spiels. Rafael Nadal lobte nach dem Viertelfinale, beeindruckt von der Leistung des Gegners: „Er spielt auf einem unglaublichen Niveau“. Und ein Fachmann sagt: „Wenn er so wie gegen Nadal spielt, dann muss einer schon verdammt gut sein, um ihn zu schlagen“. Der Fachmann ist John Lloyd, Kapitän des britischen Davis-Cup-Teams und nebenbei der letzte Engländer, der in Melbourne im Finale spielte, 1977.

Dass Murray mit seinem taktisch klugen Konterspiel größere Chancen haben würde, die sehnsuchtsvollen Hoffnungen der Briten auf einen Nachfolger für Fred Perry als Grand-Slam-Sieger zu erfüllen, als Tim Henman sie je hatte, ist schon länger offensichtlich. Für viele lautete die Frage nicht, ob er es schaffen könnte, sondern eher, wann.

Fernab der Heimat wird Murray nicht wie beim Heimturnier in Wimbledon täglich mit der nationalen Frage konfrontiert, aber dieser Geschichte kann er nirgendwo entkommen. Diesmal war es ausgerechnet Federer, der den Konkurrenten daran erinnerte. Auf Murrays Rucksack angesprochen, meinte er: „Ich weiß, dass er den ersten Titel gewinnen will für das britische Tennis nach wie vielen Jahren? 150.000? Der arme Kerl muss diese Momente ja immer und immer wieder über sich ergehen lassen.“ Auf die Replik eines englischen Reporters, es seien nur 74 Jahre, meinte Federer, er habe sich ein klein wenig verrechnet.

Murray jedenfalls ist optimistisch, dass er besser in Form sein wird als bei seinem ersten Versuch vor zwei Jahren bei den US Open. Damals sei er ziemlich nervös gewesen, wie das nun mal jeder sei, der zum ersten Mal in einem großen Finale stehe. Wenn er noch eine gedankliche Stütze braucht: Federer gewann seinen ersten Titel im 17. Versuch bei einem Grand-Slam-Turnier – und für ihn sind die Australian Open nun auch das 17. Grand-Slam-Turnier. Federer findet solche Zahlenspiele blöd. Aber der kann ja auch zaubern.