Das nomadische Ich

Saskia Sassen, Jahrgang 1949, hat die Robert-S.-Lynd-Professur in Soziologie an der Columbia University inne und unterrichtet momentan auch an der London School of Economics. Sie ist bekannt für ihre Analysen über Globalisierung und Migration. Ihr neuestes Buch: „Das Paradox des Nationalen“ (Suhrkamp 2008). Der Mann an ihrer Seite ist Richard Sennett.Auf dem taz-kongress wird Saskia Sassen am Samstag, den 18. April, zusammen mit Richard Sennett auf der Veranstaltung „Entwertete Arbeit in einer globalisierten Welt: Von Zäunen, schiffbrüchigen und der Lust des Aufbruchs“ über neue Formen der Arbeit, Migration und die globale Welt sprechen. Migration – kein Problem? Toleranz und Zivilisiertheit in einer grenzenlosen Welt: Paul Scheffer und Hilal Sezgin diskutieren ebenfalls am Samstag, 18. April, über die echten Probleme, die einem guten Zusammenleben im Wege stehen.

Ein Gespräch mit der Soziologin Saskia Sassen über neue Technologien, Migration und praktische Handlungsanweisungen in einer globalen Welt

taz mag: Der Titel des taz-kongresses „¿Tu was! Freiheit und Utopie“ ist Frage und Aufruf zugleich …

Saskia Sassen: … das ist so tazig.

Wie können auch von der Globalisierung benachteiligte Menschen in einer offeneren Welt ihren Vorteil nutzen?

Die Öffnung, die die Globalisierung mit sich bringt, in Kombination mit den neuen Technologien machen es möglich zu handeln. Erinnern Sie sich etwa an die weltweit vernetzten Aktivisten, die die Entstehung des Multilateral Agreement on Investment, MAI – das hinter verschlossenen Türen der OECD entwickelt wurde – stoppen konnten. Das sollte so etwas wie die WTO werden, nur für Investments.

Und wie haben die Aktivisten das fertiggebracht?

Jedes Land hat seine gesetzgebenden Regierungen mit E-Mails bombardiert und sie damit richtiggehend blockiert. Die Lahmlegung des geregelten Regierungsbetriebs war so effektiv, dass die Gesetzgeber letztendlich klein beigegeben und gesagt haben: Na gut, wir stimmen dagegen. Die Aktivisten haben das System sozusagen durch ihre Vielzahl bezwungen. Aber es war eine rein elektronische Vielzahl. Niemand ist dafür auf die Straße gegangen. Was mir auch daran gefällt, ist, dass man dazu nicht mobil sein muss. Man kann in seinem Land festsitzen und sich trotzdem gegen ein globales Projekt, das einem nicht gefällt, organisieren und global dagegen agieren. Ich bin auch sehr interessiert an der Frage, inwieweit die „Unbeweglichen“ die Wahl bestimmen.

Wer sind die „Unbeweglichen“?

Eine Mutter von acht Kindern zum Beispiel, die sehr arm ist und täglich damit kämpft, ihre Kinder zu ernähren, wird nicht in der Lage sein zu reisen. Heißt das nun aber, dass sie nicht Teil der kollektiven Erschaffung alternativer Globalitäten sein kann? Ich bestehe darauf, dass wir zumindest die Möglichkeit in Erwägung ziehen müssen, dass sie es sein kann.

Obwohl viele Menschen nicht mobil sind?

Jeder redet über Mobilität in Bezug auf Globalisierung, und sie ist auch ein sehr wichtiger Teil, aber die meisten Menschen sind tatsächlich noch unbeweglich. Es geht um diese Mischung aus globaler Subjektivität – die Idee, dass es tatsächlich eine Globalität gibt. Dass Menschen sich gegenseitig beeinflussen, und die Tatsache, dass man mit neuen Technologien wirklich etwas tun kann. Man braucht die neuen Technologien nicht, um die Subjektivität zu haben.

Was meinen Sie damit?

Zu wissen, dass ich mit meinen Handlungen, mit denen ich gegen die Fabrik in meiner Stadt protestiere, die das Wasser verschmutzt, das meine Kinder trinken, nicht allein bin, das gibt einem die Energie weiterzumachen. Das ist das eine. Aber das andere ist die Technologie dazu zu benutzen. Die Sachen zum Beispiel, die Amnesty International oder Oxfam machen, wie sie Netzwerke aufbauen, sodass jetzt jeder, der mit Folter in Berührung kommt, sofort ein globales Ereignis daraus machen kann.

Wozu man natürlich die Werkzeuge braucht.

Genau. Ich sehe das als eine Mischung. Einerseits müssen wir uns der globalisierten objektiven Lage öffnen, andererseits der Subjektivität des Globalen, der Möglichkeit übergreifender Projekte. Nicht ohne an die Technologien zu denken. Es sind alle drei Komponenten. Wenn man nur die Technologien hat, aber nicht die anderen zwei Komponenten, dann wird nichts passieren.

In Ihrem Buch „Das Paradox des Nationalen“ schreiben Sie, dass Migration neue Geschichten erzählen soll. Gehören dazu auch Geschichten über die Lust am Auswandern und den Geist des Abenteuers?

Oh, das gefällt mir. Ich glaube, das sollten sie, aber ich nehme meistens einen kritischen Standpunkt ein. Aber auch unser nomadisches Ich, dass sich immer in Gefahr begibt, sollte angesprochen werden. Ich sage immer: MigrantInnen werden gemacht. Und MigrantIn sein ist harte Arbeit. Nicht nur wegen der Jobs, sondern wegen des ganzen Prozesses. Ich denke an die größeren strukturellen Bedingungen, unter welchen Migration stattfindet. Das heißt, wenn man Jobs outsourced, baut man nicht nur Brücken, sondern verdrängt auch zum Beispiel andere traditionellere Formen der Arbeit. Die Regierungen sollten erkennen, dass, wenn sie sich an bestimmten wirtschaftlichen und militärischen Handlungen beteiligen, damit Migration verursachen.

Was sind denn neue Geschichten, die Migration erzählen sollte?

MigrantInnen erschaffen einen dritten Raum, der normalerweise kulturell verstanden wird. Sie gehören weder zu ihrem Ursprungsland noch zu dem Land, in dem sie leben. Sie sind die Erschaffer eines dritten kulturellen Raums. Das hat auch etwas Kosmopolitisches, finde ich. Landessprachliche Kosmopoliten, was auch immer das sein mag. Sie bringen nicht ihre Kultur en gros mit, aber oft überziehen sie ihre Kultur.

Sie leben in London und New York, sind in Holland geboren und reisen regelmäßig durch die ganze Welt. Sehen Sie sich als globale Akademikerin?

Ja, ich glaube, das bin ich. Wenn ich mir anschaue, wie selbstverständlich ich mich in den verschiedenen Welten bewege, geografisch wie auch inhaltlich. Ich bezeichne mich gern als leicht nomadische Wissenschaftlerin. Global, das klingt so bedeutend. Aber es ist nicht so, dass ich mich selbst so sehe. Es ist nur, dass ich weiß, wie man Vorträge vor ganz unterschiedlichen Menschen an sehr unterschiedlichen Orten hält. Ich halte meine Vorträge nicht, ich forme sie um. Der Satz, der am besten ausdrückt, wie ich mich fühle, ist: immer ein Fremder, immer zu Hause. Ich bin zwar eine Fremde, aber das ist kein problematischer Zustand für mich. Wissen Sie, wenn ich Englisch spreche, spreche ich mit einem Akzent. Aber ich habe keinen spezifischen Akzent. Leute merken zwar, dass Englisch nicht meine Muttersprache ist, obwohl ich sehr gut Englisch spreche. Das ist nicht der Punkt. Ich fühle mich auch sehr zu Hause im Englischen. Der Punkt ist, dass ich eine Fremde bin in der englischen Sprache. Ich bin mit fünf Sprachen aufgewachsen, und ich spreche keine dieser Sprachen perfekt. Trotzdem fühle ich mich sehr wohl damit. Das ist nicht wirklich ein Thema für mich. Ist das jetzt Globalität, oder ist das „immer ein Fremder, immer zu Hause“? INTERVIEW: MAREIKE BARMEYER