Kein Vaterland!

Sehr deutsch, sehr todessehnsüchtig, sehr verstörend: Reinhard Jirgl beerbt in seinem misanthropischen Zeitroman „Die Stille“ Arno Schmidt und Alfred Döblin, ohne dabei epigonal zu wirken. Jede Antwort weiß in diesem Buch von einer Frage

VON JAN SÜSELBECK

„Leben ist eine ansteckende Krankheit, zu heilen durch Nichts.“ Das letzte Wort dieses abgründigen Satzes hat Reinhard Jirgl nicht zufällig groß geschrieben: „Weil nichts für ewig ist außer dem Nichts“ – dem Tod. Ein weiteres Symbol für dieses totale Ende, um das sich bei Jirgl alles dreht, gibt seinem nihilistischen Roman den Titel: „Die Stille“.

Selten hat man so viel Pessimismus in solcher Konzentration zu lesen bekommen. Das „Niemand’s Nichts“ der Deutschen ist sein Thema, beschrieben am Beispiel einer Sippe von Geflüchteten, Gescheiterten und Sterbenskranken. Schon wieder ein Familienroman also, und abermals einer über Vertreibung, verlorene Heimat und deutsches Opfertum. „Aber er war ja nicht der 1zige damals“, heißt es bezeichnenderweise über einen der im Buch auftretenden Männer im Zweiten Weltkrieg, „der sowohl um sein Leben als auch obendrein um sein Grab beschissen wurde: Dieses Schicksal teilte er mit ungefähr Sechzigmillionenmenschen.“

„Ungefähr“ mit allen Deutschen also? Am Ende selbst noch um ihr Grab „beschissen“ wurden von denen damals vor allem sechs Millionen Juden. Und wenn mit der Bemerkung die insgesamt etwa 60 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg gemeint sein sollten, dann wäre es immer noch eine haltlose Verallgemeinerung: Selbst in der fernen Ukraine gibt es heute noch pompöse Friedhöfe für deutsche Soldaten, die vor 1945 dort umkamen – für die 1,5 Millionen Juden aber, die von ihnen dort ermordet wurden, existieren nicht einmal Gedenktafeln am Rande der „vergessenen“ Tatorte.

Ähnlich problematische Erzählerkommentare gibt es in Jirgls Zeitroman viele. Dabei ist es nicht einmal so, als würde die Schoah in dem Text nicht zumindest angedeutet: „Geschichten, die nicht erzählt wurden, sondern im Raunen steckenblieben.“ Doch war diese spezielle „Stille“, die hierbei entstand, etwa auch ein solches „heilendes“ Nichts, wie es Jirgls Hadern mit der „ansteckenden Krankheit“ des Lebens beschwört?

Die Todessehnsucht des Buches ist tatsächlich sehr deutsch. Und das Verstörendste daran ist, dass es trotzdem ein faszinierendes Werk ist. Denn der Vielfalt der Erzählerstimmen ist mit Ideologiekritik nicht beizukommen. Der Vorwurf, einen Roman verfasst zu haben, der Erika Steinbach als Gute-Nacht-Lektüre gelegen käme, greift zu kurz. Er wird schon zweifelhaft angesichts von Jirgls Programm, einen kompromisslos negativen Jahrhundertroman zu schreiben.

„Kein Vaterland! / Keine Freunde! / Keine Religion!“ dürfe der Verfasser eines solchen Werkes haben, forderte bereits Jirgls Vorbild Arno Schmidt. Hundert Jahre habe ein solcher „politischer Roman“ nachzuerzählen.

Dass er „fürs Vaterland“ schreibe, kann man Jirgl nicht vorwerfen: „Nichts Niemand Nirgends Nie“, dieses verneinende Motto Schmidts aus seinem Roman „Kaff auch Mare Crisium“ (1960), auf den in „Die Stille“ einmal angespielt wird, hat sich Jirgl zu eigen gemacht. Der Staat ist auch bei ihm ein mörderischer Leviathan, dessen Amtssprachen durch alle Zeiten hindurch solche des Todes sind. Misanthropie ist Trumpf: Liebe und Ehe schlössen einander aus, die Liebe selbst sei auch nur ein „Anfall innerhalb von lebenslänglichem Dummsein“ – und Kinder in die Welt zu setzen sei ein Verbrechen: „Selbst fürs Moped-Fahren brauchts 1 Führer-Schein, nur Kindermachen&kriegen, das darf jede dusslige Sau.“

Von mehreren „Gene-Rationen“ handelt, in Jirgls Schreibweise, sein Buch. Eine beeindruckende Fülle von Figuren tritt darin auf. Den motivischen Rahmen für ihren Reigen bildet – formal allerdings ganz anders als in Schmidts Vertriebenenroman „Die Umsiedler“ (1953), der auch als ein solches „Fotoalbum“ konzipiert ist – ein vergilbtes Album mit 100 Bildern. Die ältesten davon seien „fast Einjahrhundert alt“, heißt es zu Beginn, und 100 Kapitel umfasst am Ende auch der Roman. Vor jedem dieser Abschnitte wird eines der Fotos, die nicht abgebildet sind, knapp beschrieben. Von manchen heißt es, sie seien aus dem Album ausgerissen worden und verschwunden: „Denn immer […] fehlt Etwas sobald man anfängt mit Suchen. Dadrin liegt der-Sinn von Vergangenheit.“

Die Familiengeschichten rund um diese Leerstellen spinnen ein weites Netz aus Erinnerungen und Fiktionen. „Jedes Photo ist eine Antwort – jede Antwort weiß von einer Frage – jede Frage tritt hervor aus einem konkreten Ereignis, im=Papier geronnen die stillgemachten Taten“, schreibt Jirgl. Diese „chemischen Schatten“ bleiben jedoch bis zuletzt geheimnisvoll, und die Versuche, ihren Ursprung zu entziffern, Fragmente.

Manche Passagen dieses Werks können sich mit Texten Alfred Döblins messen lassen, dessen Roman „Berge, Meere und Giganten“ (1924) Jirgl nacheifert, wenn er farbenprächtige Visionen eines Weltuntergangs im 22. Jahrhundert entwirft. Und auch wenn in seinem Roman die Schlacht an der Somme erinnert wird, geschieht diese Evokation des Ersten Weltkriegs nicht voraussetzungslos. Ernst Jünger, Erich Maria Remarque und die expressionistische Kriegslyrik, ja selbst Karl May hat Jirgl offensichtlich intus, dreht ihre Texte nicht ohne Ironie hemdsärmelig durch den Wolf und schafft es dabei auch noch, nicht epigonal zu wirken. Das muss ihm erst einmal einer nachmachen.