Eine Erzählung wie ein Hurrikan

Brausende Schlagfertigkeit. Sprachgewalt. Junot Díaz erzählt von Identitäts- und Spurensuche, von Frauenschicksalen und Antihelden zwischen der Dominikanischen Republik und New Jersey. Der Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“

VON SUSANNE MESSMER

Wenn Oscar Wao, der Held oder vielmehr Antiheld dieses Romans, in der Tradition postkolonialer Literatur ein Monster darstellen soll, dann ein ausgesprochen zahnloses. Weder schlägt er zurück, noch frisst er seine symbolischen Schöpfer, die Kolonialherren zum Beispiel. Oscar frisst lieber Chips als Menschen, dementsprechend fett ist er, und er ist auch inwendig weich. „Unser Held“, so wird er in Junot Díaz’ wunderbarem Roman eingeführt, „war keiner dieser coolen Dominikaner, von denen immer alle reden – er war kein toller Baseballspieler, kein brillanter Bachatero und auch kein Aufreißer mit tausend scharfen Bräuten im Schlepptau.“

Ein Bachatero: Das ist einer, der Bachata kann, einen Tanz, der irgendwie vom Bolero und Merengue herkommt, der fleißig in der Dominikanischen Republik praktiziert wird – und Spezialwissen wie dieses, vorgetragen im charmantesten Spanglish, ist nur einer der Faktoren, die „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ zu einem der unterhaltsamsten und herzzerreißendsten Bücher dieser Saison machen.

Dieser Roman weiß einfach alles: Die Reise geht von Anime über „Star Trek“ und Tolkien bis Trujillo, den rassistischen, selbstherrlichen und paranoiden Diktator der Dominikanischen Republik von 1930 bis 1961, und das mal im fluchenden Straßenslang der dominikanischen Einwanderer in New Jersey, mal in der abgeklärten Sprache einer ernsthaften Geschichte des privaten Lebens in der Dominikanischen Republik gestern und heute. Würde man dieses magische, wilde Buch irgendwie alchemistisch erklären wollen, man müsste wohl Begriffe wie Testosteron, Adrenalin und Endorphin bemühen.

Oscar Wao, unser Held, ist ein Freak, ein einsamer, selbstmordgefährdeter Bücherwurm und Computernerd, der sich immer wieder unglücklich verliebt und es trotzdem nicht schafft, seinen barocken Körper auf vertretbares Normalmaß zu reduzieren – und es geht in „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ auch darum, diese seltsame, landesuntypische Flauschigkeit des Oscar so richtig gründlich begreiflich zu machen. Erzählt wird seine Geschichte daher nicht nur multiperspektivisch von Lola, seiner schönen und zu Recht besorgten Schwester, und von Yunior, einem Playboy und darum nur temporären Liebhaber Lolas, der eine Zeit lang mit Oscar das Zimmer teilt. Erzählt wird Oscars Leben auch rückwärts – über die Bürde der Familiengeschichte, die albtraumartige Vergangenheit seiner Mutter Beli und seines weltfremden Großvaters, des „armen Abelard“, über böse Geister, die sich einfach nicht verscheuchen lassen, erst recht nicht im Land der gar nicht so unbegrenzten Möglichkeiten Amerika.

Beli, die beinharte Beli – eigentlich ist sie und nicht ihr schlaffer Sohn die echte, die starke Heldin dieses Buchs. Belis Vater, der arme Abelard, verkennt die politische Lage seines Landes so lange, bis er schließlich in den Wahnsinn gefoltert wird, seine Frau vor einen rasenden Militärlaster läuft und die „Töchter auf jeden aufgeteilt werden, der sie nehmen wollte“. Beli, die jüngste, ist so schwarz, „kongoschwarz, shangoschwarz, kalischwarz, zapoteschwarz, rekhaschwarz“, dass niemand sie will. Sie wird an Fremde verkauft, die sie misshandeln, neun Jahre lang, bis sich ihre Tante besinnt und sie zu sich nimmt. Ruck, zuck verwandelt sich Beli in „ein Mädchen, so groß, dass einem die Beinknochen schmerzten, wenn man es nur ansah“, ein Mädchen also, dem die ganze Welt zu Füßen liegt. Tja, und dann passiert das, was den Leser ebenso trifft wie Lola, als sie davon erfährt, und zwar „wie ein Hurrikan“. Beli verliebt sich in einen mächtigen Gangster. Sie wird von ihm schwanger. Sie weigert sich, das Kind abzutreiben. Die Handlanger des Gangsters prügeln ihr das Kind in einem Maisfeld dermaßen aus dem Leib, dass auch sie fast dabei draufgeht. Sie geht nach Amerika. Natürlich gehen auch dort die Männer verschütt. Und, so berichtet Lola, „wenn sie nicht arbeitete, dann schlief sie, und wenn sie doch mal da war, kam es einem vor, als würde sie nur schreien und schlagen“. Sie zeigt Lola kein bisschen Liebe. „Wie konnte sie auch?“, räumt diese ein, „Sie war meine Mutter, eine Dominikanerin der Alten Welt, und ich ihre einzige Tochter, die sie ganz allein ohne Hilfe von irgendwem großgezogen hatte.“

Junot Díaz ist selbst Kind dominikanischer Einwanderer, und er ist erst als Sechsjähriger nach Amerika, nach New Jersey, gekommen. In Interviews betont er wie viele Migrantenkinder immer wieder, wie wichtig ihm die Uni war, um zu dem werden zu können, der er ist. „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ ist seit Langem einmal wieder ein Buch, das nicht nur Themen der Chicanoliteratur und kleinerer hispanischer Gruppen wie den Zusammenstoß der Kulturen und die hybriden Folgen, Identitäts- und Spurensuche, den sozialen Aufstieg und den Generationenkonflikt zwischen der ersten und zweiten Auswanderergeneration aufnimmt – sondern der auch mit seiner brausenden Schlagfertigkeit und Sprachgewalt den Pulitzer-Preis gewonnen hat, der also endgültig von der Peripherie ins Zentrum durchgebrochen sein dürfte.

Wem das alles immer noch keine hinreichenden Gründe sind, dieses Buch zu lesen, dem seien noch ein paar Geschichten aufgezählt, die ihm auch sonst entgehen würden: Man würde versäumen, wie es Oscar am Ende doch noch schafft, dünn zu werden und Sex zu haben; wie Yunior versucht, über den Verlust von Lola wegzukommen, und wie Lola mit ihrer Tochter alles richtig macht, was ihre Mutter mit ihr falsch machte. Man würde weiterhin verpassen: eine der mitleiderregendsten Beschreibungen des Schulalltags eines übergewichtigen Jungen in einer katholischen Jungenschule, eine der lustigsten Joggingszenen und die schlimmsten Prügelszenen der Weltliteratur. Kurz gesagt: Liebe Leser! Bitte lesen Sie dieses Buch!

Fotohinweis:Junot Díaz: „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“. Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009, 282 Seiten, 19,80 Euro