Das Vermächtnis von Rosamonds Tonbändern

Drei Generationen von Müttern und Töchtern und die Gefühlserbschaften des vergangenen Jahrhunderts: Jonathan Coe erzählt den hintergründigen Familienroman „Der Regen, bevor er fällt“

Von der britischen Literaturkritik wurde Jonathan Coes neues Buch „Der Regen, bevor er fällt“ mehr als einmal mit Ian McEwans brillantem Roman „Abbitte“ verglichen. Das ist hoch gegriffen. Kann Coe tatsächlich mit der epischen Breite und den erzählerischen Raffinessen McEwans mithalten? Die Parallelen sind unverkennbar: Beide Romane schlagen den Bogen vom Zweiten Weltkrieg bis heute, und beide werden von einer Frau erzählt. Doch während McEwan diese Perspektive erst am Ende aufdeckt, macht „Der Regen, bevor er fällt“ keinen Hehl daraus, dass hier eine Frau über die Geschichte anderer Frauen spricht.

Coes Ansatz ist privater als der McEwans: Hier geht es nicht um Schlachten und Lazarette, sondern um die Evakuierung eines kleinen Mädchens zu ihren Verwandten auf dem Land. Und während McEwans Erzählerin im Imperial War Museum recherchiert, wird der Krieg bei Coe später nur noch einmal beiläufig aufgegriffen: Eine Nebenfigur trägt ein T-Shirt mit Hitler-Konterfei, darunter steht „European Tour 1939–1945“. An die Stelle des öffentlich Abbitte leistenden, wohlkalkulierten Romans einer erfolgreichen Schriftstellerin tritt bei Jonathan Coe eine lose mündliche Erzählung. Rosamond bespricht am Ende ihres Lebens vier Tonbänder, in denen sie Imogen, die Enkelin ihrer Kusine, mit ihrer Vergangenheit vertraut machen will.

Anhand von zwanzig Fotografien versucht sie, ihren Ausführungen Struktur zu verleihen – ein befremdliches Vermächtnis, denn Imogen ist blind. Weil Imogen nicht ausfindig zu machen ist, lauscht Rosamonds Nichte und Nachlassverwalterin zusammen mit ihren Töchtern diesen Aufzeichnungen. Auch sie haben die Fotos, die der Erzählerin als Gedächtnisstütze dienen, nicht vor sich. Sie schalten das Licht aus und sitzen wie Imogen im Dunkeln – damit sind sie genauso blind wie jeder Leser, der nur die Worte eines Schriftstellers hat, um sich dessen Bilder vor Augen zu führen.

Die Bildbeschreibungen Rosamonds sind nicht unanstrengend. Rosamond ist keine allwissende Erzählerin, sondern nur allzu subjektiv. Ihre Versuche zeugen von der Unmöglichkeit, das, was einen am tiefsten bewegt, zu vermitteln. Nicht selten fehlen ihr die Worte, manchmal muss sie ihr Aufnahmegerät sogar abschalten. Sie bemüht sich, einen Zusammenhang (herbei) zu erzählen. Doch ihre größte Leistung (und damit auch die des Romans insgesamt) ist „die Erkenntnis, dass es zuweilen möglich ist – ja, sogar notwendig –, zwei sich widersprechende Vorstellungen zu hegen, die Wahrheit von zwei Dingen zu akzeptieren, die sich eigentlich widersprechen“, oder – in der Bildlichkeit dieses Romans – den Regen als Regen zu bezeichnen, bevor er gefallen und tatsächlich zum Regen geworden ist.

Rosamond spricht von den Beziehungen zwischen drei Generationen von Müttern und Töchtern. Sie spricht über psychische und körperliche Misshandlung und davon, ob verachtete Töchter unweigerlich verachtungswürdige Mütter werden müssen. Auf ihren Tonbändern gelingt es ihr immer wieder, diese ihr verwandten Frauen als frei und determiniert zugleich zu sehen.

Ohne eigene Kinder steht Rosamond zwar außerhalb dieser bedrückenden Serie matrilinearen Versagens. Doch auch ihre Figur eröffnet „zwei sich widersprechende Vorstellungen“. Frei von der übergroßen Nähe einer biologischen Mutter-Kind-Beziehung, fühlt sie sich berufen, über die Kinder anderer Leute zu „wachen“, und als sie sich vergeblich um das Sorgerecht für Imogen bemüht, ist sie überzeugt: „Wir würden dir alles geben, was deine Mutter nie besessen hatte.“

Wir, das sind Rosamond und ihre langjährige Lebensgefährtin: Von klein auf war Rosamond außerstande, auch nur das geringste Interesse am anderen Geschlecht zu entwickeln. Das Zugleich von Freiheit und Determination greift eben auch außerhalb des heterosexuellen Familienmodells. Sosehr sie immer alles richtig machen wollte – als ihr Verlobter sie mit ihrer Freundin nackt im Bett ertappt, gibt Rosamond lakonisch zu: „Im Ganzen gesehen war es keine gute Art, der Sache ein Ende zu machen.“

Das Ende, das Coe seinem Buch macht, ist hingegen äußerst gelungen. Während sich am Ende vieler Familienromane manches nur allzu glatt zusammenfügt, verweigert „Der Regen, bevor er fällt“ diese seichte Befriedigung. Wo die Gegenwart immer wieder aus den Fugen gerät, lässt sich auch die Vergangenheit nicht mehr nach einem bestimmten Muster ordnen.

Das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern ist einzigartig – aber indem Jonathan Coe, Vater zweier Töchter, eine schlichte wie hintergründige Geschichte über Frauen aus der Perspektive einer homosexuellen Mittsiebzigerin schreibt, unterhöhlt er zugleich den Gegensatz zwischen männlich und weiblich. Auch deshalb liest man diesen Roman gern. In der Vermittlung von mehr als einer Wirklichkeit steht Coes neuer Roman Ian McEwans „Abbitte“ in nichts nach. MARGRET FETZER

Fotohinweis:Jonathan Coe: „Der Regen, bevor er fällt“. Aus dem Englischen von Andreas Gressmann. DVA, München 2009, 299 Seiten, 18,95 Euro