Mein Bett, mein Herz, mein Leben

Eine einsame Jugend mit Alkohol und zu frühem Sex, ein öffentliches Dasein zwischen Kunstbetrieb, Nachtleben und Feminismus: Die Künstlerin Tracey Emin hat ein Buch über ihr Leben geschrieben. Es heißt „Strangeland“ und ist mal drastisch, mal gefühlig und mal alles zusammen

VON ELISABETH RAETHER

Nie passt Tracey Emin ins Bild. Auf Liz Hurleys Hochzeit oder Paul McCartneys Geburtstagsfeier zum Beispiel: das Lächeln schief, die Hüften zu breit, Falten ziehen sich quer über die Stirn. Ihre Garderobe ist vielleicht teuer, aber nicht gerade sorgsam zusammengestellt, während die anderen Frauen schmal, blond und gepflegt sind wie Jerry Hall oder das Powerdressing beherrschen wie Stella McCartney. Im Kulturbetrieb fällt Tracey Emin auf, weil ihr Dekolleté ein bisschen zu tief ist oder weil sie bei einem exklusiven Sommerfest, das eine Londoner Kulturinstitution veranstaltet, auf der Damentoilette einen Streit anfängt und so ausfallend wird, dass jemand die Polizei ruft. Mitte der Neunzigerjahre trat sie in einer britischen Fernsehtalkshow betrunken auf. Sie sagte, dass sie nichts verstehe von dem, was die anderen da redeten (es ging um Kunst und den Turner Prize), dass „normale Menschen“ sich diese Sendung bestimmt nicht ansehen und dass sie lieber bei ihren Freunden oder bei ihrer Mutter wäre, als hier herumzusitzen. Es sei zwar ein bisschen peinlich, dass sie das jetzt sage, aber so sei das eben, und dann stand sie auf und verließ das Studio.

Tracey Emin bewegt sich in allen Milieus. Sie ist alles gleichzeitig, Künstlerin und Star, engagiert, empathisch, witzig, attraktiv, nahbar, kämpferisch, verletzlich. In ihrer Person verdichten sich die Diskurse zu einem großen Ganzen: Politik und Psychologie, Kunst und Pop, Kultur und Nachtleben, Feminismus und Mode, Subkultur und Mainstream. Das ist Emins Vorstellung von Echtheit. Das Leben, oder ihr Leben jedenfalls, ist nicht in Bereiche unterteilt, es beschäftigt sich mit allem gleichzeitig: dem Trauma einer Abtreibung, der Sehnsucht nach Liebe, dem politischen Bewusstsein, der Suche nach einer künstlerischen Form, der Angst vor dem Kinderkriegen.

Das sind ein paar der Themen, die in Tracey Emins Kunst eine Rolle spielen, denn sie macht ihre Erfahrungen zu Kunst, das heißt zu Neonleuchtschriften, Wandteppichen, Zeichnungen, Videos, Installationen. 1999 zeigte sie in einer Ausstellung ein Bett, „My Bed“, das aussah wie das, in dem sie, so geht die Geschichte, tagelang gelegen hatte, als sie nach einer unglücklichen Liebesgeschichte eine depressive Phase hatte. Um das Bett herum sind Kippen und getragene Unterhosen verstreut, das weiße Laken hat gelbe Flecken. Emin hat das Bett genau so nachgebaut, wie es in ihrem Schlafzimmer stand. Kunst und Erleben sind eins.

Zumindest arbeitet Emin seit Beginn der Neunzigerjahre so, als sie alle Gemälde zerstörte, die während ihres Studiums am Londoner Royal College of Art und danach entstanden waren. „Mein Leben war mir zu wichtig, als dass ich es mit dem Versuch, Kunst zu machen, in einzelne kleine Stücke zerhacken wollte“, schreibt sie in ihrer jetzt auf Deutsch erschienenen Autobiografie „Strangeland“.

Vielleicht ist das Buch auch ein Memoir, es handelt davon, wie Tracey Emin, geboren 1963, bei ihrer Mutter im südenglischen Küstenort Margate aufwächst, eine harte, einsame Jugend mit Alkohol und zu frühem Sex zubringt, wie sie sich später mit ihrem Vater, einem Türken aus Zypern, aussöhnt, wie sie zur Kunst kommt, betrunken im Fernsehen auftritt und berühmt wird.

Klar, dass Emin, wenn sie ein Buch schreibt, von sich selbst erzählt. Klar ist auch, dass dieses Buch keine stringente, beherrschte Erzählung ist, sondern ein Arrangement verschiedener Episoden, eine lose Sammlung von Momenten: Wie im richtigen Leben stehen bedeutsame Einsichten neben banalen Beobachtungen, Zuversicht folgt auf Verzweiflung und umgekehrt, der verständige Ton („Hör nur auf dein Herz“) schlägt plötzlich um, und dann werden alle Männer beschimpft, eindringliche Momente reihen sich an die alltäglichen, die sentimentalen wechseln sich mit den nüchternen ab. Und auch das Eklige, das einem manchmal passiert, kommt vor: „Ich wachte schrecklich verkatert auf, hatte Sex, lief ins Bad, übergab mich und schiss gleichzeitig.“ Es gibt diese Charlotte-Roche-haften Momente, in denen Körperflüssigkeiten und Masturbationstechniken zur Sprache gebracht werden. „Strangeland“ ist im Original allerdings drei Jahre vor „Feuchtgebiete“ erschienen. Teilt Charlotte Roche Emins romantische Sehnsucht danach, dass alles irgendwie ein organisches Ganzes wäre?

Emin selbst ist jedenfalls längst berühmt. Seit letztem Herbst wird eine große Retrospektive gezeigt, ab diesem Monat in Bern: „Tracey Emin – 20 Years“. Nach dem Aufsehen erregenden Fernsehauftritt habe die Tate Gallery bei ihr angerufen, schreibt Emin, um ihr zu versichern, dass sie sich nicht blamiert habe: „Ich sei eine Künstlerin und damit fertig.“ Heute ist Emin nicht mehr nur eine Künstlerin, sie hat auch einen bestimmten Künstlertypus geprägt. Dass drastische Erzählungen aus dem Körperinneren inzwischen dem Geschmack eines Millionenpublikums entsprechen, dass es in Metropolen wie Berlin heute unvorstellbar ist, wie Nachtleben und Kunst jemals nicht zusammengehört haben sollen, dass heute unzählige Künstlerinnen mit ihrem Menstruationsblut arbeiten, das ist ja nicht Tracey Emins Problem.

Fotohinweis:Tracey Emin: „Strangeland“. Aus dem Englischen von Sonja Junkers. Blumenbar Verlag, München 2009, 240 Seiten, 17,90 Euro