Das Orakel auf der Obstwaage

SPRICH WARENWELT SPRICH David Wagner lässt ein vom Liebeskummer geplagtes Ich durch die schönen Konsumlandschaften eines Supermarktes spazieren gehen – „Vier Äpfel“

Wer hat den Klobürsten und den Feuchtwischsystemen schon einmal einen derart scharfsinnigen Reflexionsapparat gewidmet? Wer hat schon einmal dem Verschwinden der vertrauten Dinge des Alltags eine so ausgeklügelte Poetik der Warenwelt entgegengesetzt?

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Die Flötenlehrerin kam häufig von hinten, schlang die Arme um ihren etwa zehnjährigen Schüler, sodass dieser ihre Brüste am Hinterkopf spürte, und zeigte ihm den richtigen Griff an der Flöte. „Sie roch, das fällt mir jetzt ein, nach einer hellen Naturseife, mit Lindenblüten womöglich.“

Ein solcher Satz mag schon viel bedeuten in einem Roman der Gegenwart. Lindenblüten ausgerechnet, Erinnerung, sprich! Der Flötenschüler ist mittlerweile ein Mittdreißiger und kauft in einem Supermarkt ein. Vier Äpfel legt er auf die elektronische Waage (früher waren das verbeulte Schalen!), und die Waage zeigt exakt 1.000 Gramm an. Ein Zeichen dafür, dass heute ein besonderer Tag ist? Oder doch nur ein Ausdruck dessen, dass im konfektionierten Einerlei des Großhandels ein Apfel immer nur ein und dasselbe Gewicht, 250 Gramm, haben darf?

„Vier Äpfel“, so heißt David Wagners neuer Roman, in dessen Verlauf der namenlose Held und Icherzähler den Supermarkt nicht mehr verlassen wird, rein körperlich. Doch ist das, was er sieht, riecht und schmeckt immer wieder der Auslöser für Erinnerungsschübe. Die hat David Wagner in Fußnoten gesetzt. Auf diese Weise sind quasi zwei Bücher entstanden: eines aus der Gegenwart, ein anderes, das in einem auch für sich reizvollen Ganzen ebendiese in ein kommentiertes Verhältnis zum Vergangenen setzt.

Der Icherzähler ist im Grunde genommen ein großes Kind geblieben. Das Nostalgiepotenzial von „Vier Äpfel“ ist groß: von den Lokführern, die noch eine Uniform mit Mütze trugen, über die Tatsache, dass es früher nur eine Sorte von Tomaten gab, bis hin zum Tante-Emma-Laden (der in diesem Fall von einem Mann geführt wurde) mit dem „alten, roten Doppelkaugummiautomaten und dem Eiswimpel neben der Ladentür“ – alles da, in voller Pracht.

Ein Panorama einer bundesrepublikanischen 70er-Jahre-Sozialisierung tut sich auf. Ungetrübt ist dieser Kindheitszustand nicht: Der Bauernhof, zu dem der Erzähler seinerzeit mit der Milchkanne in der Hand zum Milchholen geschickt wurde, lag neben dem Parkplatz der Landesnervenklinik; die Bäuerin war unfreundlich; irgendwann ging der Junge in den Supermarkt und kippte die Tüten in die Kanne um.

Das nennt man wohl Zeitenwende, und unter anderem darum geht es David Wagner außerhalb der Fußnoten – um den Supermarkt als dem sowohl alltäglichsten als auch stärksten Symbol der rasenden Globalisierung. Alle Sicherheiten sind geschwunden: Was kann und darf man hier wem noch glauben, wenn auf dem Honigetikett eine prächtige Almhütte zu sehen ist und man erst im Kleingedruckten erfährt, dass das Zeug aus Mexiko kommt? Die Blumen – vorgestern noch in einem Gewächshaus in Kenia gestanden. Sounddesign an der Fischtheke (mit Produkten aus überfischten Gewässern), am Bäckerstand ein köstlicher Geruch nach frischem Brot, erzeugt durch Zusatzstoffe, die, wie man munkelt, in China unter Verwendung von Haaren hergestellt werden.

Und mittendrin ein überfordertes Ich, vom Liebeskummer geplagt, von der schönen bunten Konsumwelt noch deswegen zusätzlich überfordert, weil ja auch die Produkte an sich schon wieder in unmittelbarem Zusammenhang zu der gescheiterten Beziehung stehen: die Zahnpasta, die L., einen anderen Namen bekommt sie nicht, benutzt hat; das Waschmittel, das sie immer gekauft hat (bis sie sich dazu entschloss, es mit indischen Waschnüssen zu versuchen).

„Vier Äpfel“ ist eine verblüffend einfache Versuchsanordnung, aus der David Wagner ein vielschichtiges Kunststück gebaut hat: melancholischer Abgesang und messerscharfe Beobachtung zugleich. Ob man das unbedingt Roman nennen muss oder vielleicht eher ein Feuilleton, ist in diesem Zusammenhang bedeutungslos. Es sind kurze, oft nicht einmal seitenlange Kapitel, aus denen der Mikrokosmos des Supermarktes mitsamt seiner Kundschaft kaleidoskopartig zusammengesetzt wird.

Die Beobachtungen, die der Erzähler macht, schwanken dementsprechend im Sekundentakt zwischen Originalität und Banalität, wobei der einkaufende Held die etwas unschöne Angewohnheit hat, gerade die profansten Erkenntnisse ins Existenzielle heben zu wollen. Hin und wieder fährt der Tod im Einkaufswagen mit, und das ist dann vielleicht doch ein bisschen zu dick aufgetragen. Aber so ist das vielleicht, wenn das Orakel der Äpfel einem gesagt hat, dies sei ein außergewöhnlicher Tag.

Andererseits: Wer hat den Klobürsten und den Feuchtwischsystemen schon einmal einen derart scharfsinnigen Reflexionsapparat gewidmet? Wer hat schon einmal dem allmählichen, nicht durch Rationalität, sondern nur durch die abstruse Logik des Marktes begründeten Verschwinden des Gewohnten und Bewährten, den kleinen vertrauten und Halt gebenden Dinge des Alltags eine so ausgeklügelte Poetik der Warenwelt entgegengesetzt? Wagners Erzähler ist dafür im richtigen Alter: Lange genug auf der Welt, um die alte, vorglobalisierte Zeit, die noch gar nicht lange her ist, erlebt zu haben; jung genug, um zu begreifen, was das gefräßige Monster des Kapitalismus anrichtet.

Dass wir darauf wiederum mit einer geradezu hysterischen Übersensibilisierung reagieren und uns selbst gefangen haben in einem Geflecht aus politischer Korrektheit, Stichwort: Ökoterrorismus, ist bei Wagner bereits mitgedacht. Insofern ist „Vier Äpfel“ wohl auch ein Generationenroman. Ein etwas verschrobener vielleicht, aber ein höchst unterhaltsamer.

David Wagner: „Vier Äpfel“. Rowohlt, Reinbek 2009, 160 Seiten, 17,90 Euro