Die Spannung des Nicht-Wissens

VERSCHÜTTETE MÖGLICHKEITEN TV-Soaps oder Klassik: Die „Naturphilosophie“ von Paul Feyerabend verbindet Realität, Medium und Wahrheit

Methodenpluralismus ist sein Versuch, der Sackgasse der einseitigen Entscheidung zu entkommen

VON CORD RIECHELMANN

Das Magazin Kultur und Gespenster leistet sich in seiner aktuellen, dem Hochstapler gewidmeten Ausgabe einen subtilen Witz. „Erkenntnis und Bilder“, der erste Text des Heftes, ist dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (1924–1994) gewidmet.

Paul Feyerabend gilt mit seinem Schlagwort vom „Anything goes“ als einer der Stichwortgeber postmoderner Theorie- und Praxisbildung. Den einen, in der Regel Künstler und sich anarchistisch gerierende Studenten, wurde er damit zu einer Art Säulenheiligen. Anderen aber, in der Regel sich seriös dünkenden Philosophieprofessoren und Wächtern über die strenge und korrekte Lehre der Wissenschaften, erschien Feyerabend als Scharlatan und der entscheidende Türöffner von Geistlosig- und Beliebigkeit nicht nur an den Universitäten. Unrecht hatten beide Seiten, das zeigt der Autor des Textes „Erkenntnis und Bilder“, der Bremer Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier, argumentativ so einleuchtend, wie man es sich nur wünschen kann.

Unbearbeiteter Rest

Feyerabend ging es mit seinem Plädoyer für einen Methodenpluralismus um eine Wiedergewinnung des Möglichkeitssinns in der Entscheidungsfindung. Da jede Entscheidung, ob staatspolitisch oder individuell, mit dem Ausschluss anderer Möglichkeiten arbeiten muss, bleibt immer ein unbearbeiteter Rest. „Wir untersuchen einige dieser Möglichkeiten – andere verwerfen wir einfach ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung, denn allen weisen Menschen aller Zeiten ist es noch nicht gelungen, auch nur zu beginnen mit einem vollständigen Studium aller möglichen Lebensgeschichten“, schreibt Feyerabend in „Wissenschaft als Kunst“ 1984.

Das heißt, jede Entscheidung verschüttet Möglichkeiten, und dem kann man nach Feyerabend nur mit einem bedingungslos demokratischen Kulturverständnis antworten. „ … ich sagte, Die Kunst DES Volkes sei Dallas oder Jerry Cotton und daß man erst diese studieren müsse, wenn es einem daran gelegen sei, Kunst und Volk ein wenig näher zu bringen“, erläutert Feyerabend seine Position in einem Brief an den Ethnologen Hans Peter Duerr. In der von Duerr herausgegebenen Anarchozeitschrift Unter dem Pflaster liegt der Strand fasste Feyerabend in einem Essay sein Programm im Titel zusammen: „Wie die Philosophie das Denken verhunzt und der Film es fördert“.

In Glasmeiers Text wird daraus eine Beschreibung der Arbeitssituation des Philosophen. Während Feyerabend an „Wissenschaft als Kunst“ arbeitet, laufen zeitweilig zwei Fernseher, auf denen US-amerikanische Shows und Soaps zu sehen sind, daneben liegt ein Prachtband über die Impressionisten. In Glasmeiers Annäherung wird die in Fernseh- und Filmkonsum sich austobende Bildersucht Feyerabends aber nicht zu einem augenzwinkernden Bekenntnis zum Kitsch, den Intellektuelle sich leisten können. Sie wird zu einem Erkenntnismodell, das sich, wie auch die Philosophiegeschichte, den Fragen von Realität, Medium und Wahrheit stellen muss. Methodenpluralismus ist für Feyerabend also nichts anderes als der Versuch, der Sackgasse der einseitigen Entscheidung zu entkommen. Trash und Soaps stehen dabei neben dem klassischen griechischen Theater, ohne das eine der Optionen die andere dominiert oder ausschließt. Wobei der Ausschluss zum Schreckgespenst Feyerabends überhaupt wird.

Deshalb wehrt er sich bereits als Philosophieprofessor in den 60er-Jahren in Berkeley gegen Kapazitätsbeschränkungen in den Seminaren und benotet alle Studenten prinzipiell mit „sehr gut“. Deshalb auch wird ihm der Dadaismus in den Sechzigerjahren zum Erkenntnisinstrument. Dada war im Unterschied etwa zum Surrealismus keine Schule, sondern eine Bewegung. Und Bewegungen unterscheiden sich von Schulen dadurch, das sie keine reine Lehre vertreten und in der Folge auch auf Ausschlussverfahren und Tribunale verzichten können. Und das die von Glasmeier im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft aufgespannten pluralistischen Maximen Feyerabends überhaupt nichts mit Beliebigkeit oder „Anything goes“ zu tun haben, kann man jetzt an seiner aus dem Nachlass veröffentlichten Naturphilosophie studieren. Es ist nicht übertrieben, Feyerabends Naturphilosophie als sein bestes und aktuellstes Werk zu bezeichnen. Es geht darin um eine Darstellung der Denkformen über die Natur von der Steinzeit bis heute.

Scheinbare Ruhe

Das Werk ist so bildgesättigt, wie man es nach Glasmeiers Essay nur erwarten kann. Es enthält eine knappe, aber präzise Darstellung der archaischen Kunstformen und eine Kritik ihrer Deutungen. Dass Tierbilder eine magische Funktion haben, Abbildungen von schwangeren Tieren oder Frauen eine Rolle in Fruchtbarkeitsriten spielen oder nicht identifizierbare lange oder rundliche Gegenstände sexuell konnotiert sind, wie es die deutende westliche Wissenschaft behauptet, hält Feyerabend weder für richtig noch für beweisbar.

Denn „der Kreis der Vorstellungen einer Menschengruppe ist viel umfassender, als was sich aus ihren Kulturspuren allein ermitteln läßt“, heißt es in der Naturphilosophie. Das meint: Es ist prinzipiell unmöglich, eine Lebenswelt, an der man nicht teilhat, angemessen zu beurteilen. Die alten Griechen wussten das noch. So wird bei Homer und Hesiod die Welt ein aus vielen kleinen Ereignisreihen zusammengesetzter gigantischer Prozess, in dem die Ruhe nur scheinbar ist, weil sie nur das Ergebnis von Tendenzen ist, die kurzzeitig und vorübergehend ein Gleichgewicht schaffen. Es ist in diesem naturmythischen Denken also immer alles in Bewegung, und – das ist Feyerabends Pointe – die Natur schließt hier immer auch die Gesellschaft ein. Die Trennung von Natur und Gesellschaft erfolgt bei den Griechen mit Parmenides, der der Natur mithilfe mathematischer Beschreibungen die Bewegung nimmt, in dem er sie mit ruhenden und zur Veränderung grundsätzlich unfähigen Prinzipien erklärt. Die Trennung von Natur und Menschengeschichte hat hier ihren Ursprung und bleibt bis ins 19. Jahrhundert das bestimmende Paradigma von Wissenschaft und Geschichte, das sich in der Floskel von den „ewigen Naturgesetzen“ Ausdruck verschafft.

Im 19. Jahrhundert aber, mit Darwin zum Beispiel, beginnen sich Natur und Begriffe wieder in der Geschichte zu bewegen. Sie fließen sozusagen und bieten die Möglichkeit einer Kombination moderner Wissenschaft mit dem Gedankengut steinzeitlicher Philosophen und Wissenschaftler. Und wie die aussehen könnte, davon handelt der Philosoph Michael Hampe im „Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte“. „Nach Feierabend“ heißt das Periodikum und widmet sich aktuell dem Nichtwissen. Wobei Nichtwissen für Hampe zu einem wesentlichen Movens existenzieller und wissenschaftlicher Revolutionen wird. Nur da, wo man nicht weiß, wie man mit etwas umgehen soll, das in der Welt passiert, entsteht ein Veränderungsdruck auf die relative Geschlossenheit wissenschaftlicher oder persönlicher Systeme. Nur in der Spannung von Nichtwissen und einem Außendruck wird die Entwicklung neuer individueller Stimmen von Personen oder Disziplinen notwendig. Die Lage an den Universitäten und in der Gesellschaft scheint gerade neue Töne gebrauchen zu können, und die drei Texte sind Werkzeuge, mit denen die ewige Perpetuierung der angeblichen Alternativlosigkeit derzeitiger Handlungsmuster sehr gut aufgehoben werden kann.

Kultur & Gespenster Nr. 9: „Hochstapler“. Textem, Hamburg 2009, 247 S., 12 Euro

Paul Feyerabend: „Naturphilosophie“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 384 S., 24,80 Euro

David Gugerli u. a. (Hg.): „Nach Feierabend. Nicht-Wissen“. Diaphanes 2009, 183 S., 25 Euro