Aus der Literataz - Frankfurter Buchmesse: Zwei Frauen und der heilige Zorn

"Fegefeuer": Die Autorin Sofi Oksanen hat einen fulminanten Roman über Frauenleben in Zeiten des Umbruchs und über die estnische Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben.

Die Autorin Sofi Oksanen. Bild: dpa

Eine riesige, unappetitliche Schmeißfliege verunstaltet das Cover des in feministischem Lila gehaltenen Schutzumschlags. Eklig. Brrrr! Was für eine scheußliche Metapher! Noch wenn der Band im Regal steht, ist es deutlich auf dem Buchrücken zu erkennen, das Viech. Ob man den Schutzumschlag wohl besser entfernt? Oder wird es möglich sein, sich daran zu gewöhnen?

Dass der Mensch in der Lage ist, mit Hilfe von Verdrängung so gut wie alles auszuhalten, führt Sofi Oksanen in "Fegefeuer" schmerzhaft vor. Der Roman der 33-jährigen, in Finnland aufgewachsenen Tochter einer Estin und eines Finnen ist in Estland und Finnland ein Bestseller. In Finnland hat er der Autorin die zwei höchsten Literaturpreise eingebracht, die das Land zu vergeben hat, und in Russland wurde Oksanen zeitweise mit einem Einreiseverbot belegt.

Zentraler Handlungsort ist ein abgelegenes estnisches Dorf. Die alte Aliide, die allein auf ihrem kleinen Hof lebt, findet in ihrem Garten eine halb bewusstlose junge Frau, eine Russin, die ein altmodisches Estnisch spricht. Sie behauptet, auf der Flucht vor ihrem Ehemann zu sein. Etwas widerstrebend nimmt Aliide sie auf und findet wider Willen Gefallen an der Fremden.

Doch Zara, die aus Nowosibirsk stammt, ist in Wirklichkeit die Tochter von Aliides Nichte Linda, die mit ihrer Mutter, Aliides Schwester Ingel, in der Stalinzeit nach Sibirien deportiert worden war. Zara hat ein Foto der jungen Aliide mit der jungen Ingel mitgebracht, gibt jedoch vor, es auf dem Hof gefunden zu haben, als sie es Aliide zeigt. Aliide leugnet zunächst, je eine Schwester gehabt zu haben, behauptet dann, die Schwester hätte den Kolchos bestohlen. Zara glaubt ihr nicht, doch mehr wird sie aus Aliide nicht herausbekommen.

Klartext wird es zwischen den beiden Frauen nie geben, niemals, so sehr man es beim Lesen auch hoffen mag. Obwohl sie ähnliche Erfahrungen durchlitten haben, gibt es keine gemeinsame Ebene der Kommunikation zwischen den Generationen. Was wirklich geschah, müssen wir von der Autorin erfahren. In einem komplexen Geflecht aus Rückblenden rollt Sofi Oksanen die Lebensgeschichten beider Frauen vor uns aus.

Das Schicksal Zaras, die aus Sibirien nach Westeuropa gelockt und als Prostituierte gefangengehalten wurde, ist dabei so schrecklich wie einfach. Aliides Fall ist deutlich komplexer, da sich darin die Geschichte mehrerer Jahrzehnte spiegelt.

Noch die Vorkriegszeit spielt eine Rolle, die furchtbaren Irrungen und Wirrungen der Geschichte Estlands, das, zwischen Deutschem Reich und Russland aufgerieben, sich erst nach dem Zerfall des Sowjetimperiums zu seiner eigenen kulturellen Identität bekennen konnte. Aliide hinkt gewissermaßen dem Schicksal des Landes hinterher, denn erst durch die Begegnung mit Zara lösen sich in ihr Jahrzehnte alte Verdrängungsmechanismen.

Die Verkettung von privatem und politischen Schicksal ist in ihrem Leben exemplarisch ausgeführt. Unerfüllte Liebe, politische Unterdrückung, Vergewaltigung und Folter durch die Geheimpolizei, Heirat mit einem sowjetgläubigen Parteifunktionär, Verrat an den Nächsten und schließlich, im Alter, das Geächtetsein in der Dorfgemeinschaft sind die unseligen Stationen eines unglücklichen Frauenlebens. Eine Tochter hat Aliide geboren, immerhin, doch die hat sich schon lange nach Finnland abgesetzt.

Sofi Oksanen scheut vor drastischer Gewaltdarstellung nicht zurück, setzt sie jedoch sehr überlegt ein. Die ältere Generation habe keine Sprache für sexuelle Gewalt, sagte sie einmal in einem Interview mit einer schwedischen Journalistin; das sei bei der jüngeren Generation anders.

Was bei den Szenen im KGB-Keller nur angedeutet bleibt, wird in den Rückblenden auf Zaras nicht sehr lange zurückliegendes Leben als Sexsklavin in Berlin in aller Explizitheit durchbuchstabiert. Das ist fast unerträglich, aber eben nur fast. Denn Zara gelingt die Flucht vor ihren Peinigern, weil sie es trotz allem schafft, sich durch die Ausbeutung ihres Körpers nicht mental unterwerfen zu lassen und aus der Rolle der Sexsklavin Natascha auszusteigen. Dass dazu auch von ihrer Seite eine radikal gewalttätige Handlung nötig ist, nehmen wir billigend in Kauf. Nach all der Gewalt, die die Frauen erleiden mussten, giert man geradezu nach ausgleichender Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit, nicht Rache! Dass das Auge-um-Auge-Prinzip bei sexueller Gewalt nicht funktioniert, hat ein Klassiker der finnischen feministischen Literatur bereits vor Jahrzehnten deutlich vor Augen geführt. In Märta Tikkanens "Wie vergewaltige ich einen Mann" aus den siebziger Jahren muss ihre Heldin auf fast tragikomische Weise an einem Vergeltungsversuch scheitern.

So weit lässt Sofi Oksanen, eine Generation weiter, es nicht mehr kommen. Bei aller Explizitheit der historischen Bezüge, die ihr viele politische Anfeindungen eingebracht haben, hat ihre Personenaufstellung etwas Überzeitliches. Ein geradezu archaischer Zorn wohnt tief in diesem Roman. Er ist gekommen zu richten über all jene, die Frauen zu Objekten willkürlicher Gewaltausübung machen. Und so wird die alte Aliide am Ende ihres verpfuschten Lebens gleichsam zur Hohepriesterin einer vernichtenden Gerechtigkeit.

Das hat etwas unglaublich Befreiendes; doch Oksanen lässt den Roman nicht in einem kathartischen Schlussakkord ausklingen, sondern auf eine irritierende Dissonanz enden. Der Mensch mag sein Leben reinigen von allem Bösen, doch die Geheimdienstprotokolle lagern für immer in den Archiven. Begangene Taten lassen sich nicht auslöschen, erlittenes Unrecht bleibt für immer. Wie ernüchternd, wie ausweglos, wie unbestechlich kitschfrei das alles ist!

Sofi Oksanen, die studierte Dramaturgin ist, hatte den Stoff, bevor sie den Roman schrieb, zunächst in einem Theaterstück verarbeitet. Eine dramatische Urform ist wahrscheinlich eine gute Grundlage für einen Roman, der aufgrund seines schwierigen, emotional herausfordernden Themas leicht in wohlfeiles Pathos und erzählerische Verschwendungssucht ausfransen könnte.

Bei Sofi Oksanen aber wird der heilige erzählerische Zorn jederzeit gebändigt und in Form gehalten durch die perfekte Organisation des Materials. Das ist sehr, sehr eindrucksvoll. Mit Sicherheit wird von dieser Autorin noch oft die Rede sein müssen.

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