Wer war noch mal Larry Rivers?

ANTIAUTORITÄR Der posthum veröffentlichte Roman „Die Nöte des wahren Polizisten“ von Roberto Bolaño gibt den Ball an den Leser weiter

VON EVA-CHRISTINA MEiER

Nach Roberto Bolaños frühem Tod 2003 fanden sich auf seinem Schreibtisch stapelweise Manuskriptseiten und im Computer zahlreiche Dateien unveröffentlichter Werke. An dem soeben auf Deutsch erschienenen Buch „Die Nöte des wahren Polizisten“ hatte der chilenische, zuletzt in Spanien lebende Autor seit den achtziger Jahren bis zum Schluss gearbeitet, ohne es jedoch zu Ende zu bringen. Über den Titel und die vermeintlich fehlende Ordnung sagte er selbst: „Der Polizist ist der Leser, der vergeblich versucht, diesen vermaledeiten Roman zu sortieren.“

Bereits in „2666“, seinem 2004 von der internationalen Literaturkritik gefeierten Buch, war es Bolaño auf anregende Weise gelungen, aus locker miteinander verwobenen Erzählungen, historischen Anekdoten, Querverweisen und Abhandlungen zur Literatur eine offene, aber komplexe Struktur anzulegen. So handelte „2666“ sowohl von den ungeklärten Frauenmorden in der mexikanischen Ciudad Juárez – hier: Santa Teresa – als auch vom unter dem Pseudonym Benno von Archimboldi schreibenden deutschen WKII-Teilnehmer Hans Reiter.

In einer editorischen Notiz im Anhang zu „Die Nöte des wahren Polizisten“ versichert Bolaños Witwe Carolina López, dass es sich bei den aufgefundenen Aufzeichnungen tatsächlich um ein weit vorangeschrittenes, aber nicht abgeschlossenes Romanprojekt des Autors gehandelt habe. So sei das Romangefüge anhand von vier mit Nummern und Titeln versehenen Mappen nach den Vorgaben Bolaños festgelegt worden.

Bei der Lektüre von „Die Nöte des wahren Polizisten“ trifft man wieder auf den Exilchilenen Oscar Amalfitano und seine Tochter Rosa aus „2666“. Es scheinen dieselben Person zu sein, doch ihr Leben verläuft diesmal etwas anders. Amalfitano ist inzwischen Ende fünfzig und tritt nach Stationen in Kanada, Nicaragua und Brasilien eine Stelle als Literaturprofessor an der Universität von Barcelona an. Dort verliebt er sich in Padilla, einen jungen Poeten, und entdeckt seine Homosexualität.

„Das wird übel enden, dachte Amalfitano, übel enden, übel enden, während Padilla seinen Schwanz behutsam in seinem alten Arsch versenkte.“ Und tatsächlich: Um einen größeren Skandal zu vermeiden, wird ihm von seinen Kollegen bald nahegelegt zu kündigen. Nur die Universität von Santa Teresa im Norden Mexikos macht Amalfitano danach ein Angebot. Und so landet er mit seiner Tochter Rosa wie auch in „2666“ in jener fiktiven Provinzstadt mit der traurigen Charakteristik von Ciudad Juárez.

Unerschöpfliche Neugier

Schließlich lässt er die Studenten in Santa Teresa von Amalfitano lernen: „Dass die wahre Poesie zwischen Abgrund und Unglück zu Hause ist und dass dicht an ihrem Haus Macabrus Königsweg der Willkürtaten, der Eleganz und des Glücks vorbeiführen.“ Angesichts der wiederkehrenden Protagonisten und Orte in „2666“ und „Die Nöte des wahren Polizisten“ ist es durchaus denkbar, dass zwischen beiden Projekten zunächst keine klare Abgrenzung existierte und Bolaño einzelne Teile parallel ausarbeitete.

Immer wieder baut Bolaño Autoren, Poeten oder Feldherren in seine Literatur ein und verweist damit auch auf ein umfassendes und unabhängiges Koordinatensystem, das sich aus einem Leben mit Büchern und unerschöpflicher Neugier speiste. Als Leser oder „Polizist“ dabei auf Gilberte Dallas, Macabru oder Larry Rivers stoßen, den Nebenspuren zu folgen und sich dort zu verlieren, ist ein besonderes Vergnügen. Larry Rivers, der New Yorker Musiker und Künstler (1923 –2002) gilt als Vorreiter der Pop Art. Der junge Maler Castillo, Amalfitanos neuer Liebhaber in Santa Teresa, hält sich als Fälscher von Larry Rivers’ Bildern für den texanischen Kunstmarkt über Wasser. Umgekehrt entwirft Bolaño mit der Figur des Franzosen J. M.G. Arcimboldi eine detailreiche, imaginäre Schriftstellerbiografie. Das Kapitel IV seines Romans enthält nicht nur eine Liste aller Essays, Theaterstücke, Gedichte und Romane mit Inhaltsangaben, sondern auch noch eine kommentierte Aufzählung der Brieffreundschaften und Erzfeinde des Autors Arcimboldis.

„Die Nöte des wahren Polizisten“ bleibt zwar ein unvollendeter, fragmentarischer, aber wie Juan Antonio Masoliver Ródenas im Vorwort betont, kein unvollständiger Roman und gibt damit den Ball an den Leser weiter – wohl ganz im Sinne Bolaños.

Roberto Bolaño: „Die Nöte des wahren Polizisten“. Aus dem Span. v. C. Hansen. Hanser, München 2013, 272 S., 21,90 Euro