Mit Sehnsucht im Gepäck

Der Hippietrail ist ein Ausdruck, der die Reiserouten der Hippies in den Sechzigern und Siebzigern von Europa über Land nach Ostasien beschreibt. Die Bezeichnung Beatnik wurde von Herb Caen vom San Francisco Chronicle erfunden, für die Mitglieder der Beat Generation (so wird eine Richtung der US-amerikanischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet). Der Name lehnt sich an den damals von der Sowjetunion ins All geschossenen Sputnik an. Der Amerikaner Jim Haynes gründete 1967 das Arts Lab in London, das in kurzer Zeit zum bedeutendsten Umschlagplatz der neuen Londoner Kulturszene wurde. Die Kooperative Longo Maï ist ein über Europa ausgelegtes Netz von etwa einem Dutzend selbst verwalteter landwirtschaftlicher und handwerklicher Kooperativen, die seit 1973 versuchen mit anderen Gruppen ähnlicher Ausrichtung solidarisch zusammenarbeiten und kollektive Formen des Zusammenlebens zu erproben. Matala ist ein Dorf an der Südküste der griechischen Insel Kreta. In den Sechzigerjahren siedelten sich in den neolithischen Wohnhöhlen Hippies aus aller Welt an, die dort eine große Kommune gründeten. Darunter auch viele junge US-Amerikaner, die ihre Teilnahme am Vietnamkrieg verweigerten. Zeitweise lebten hier auch Cat Stevens, Bob Dylan und Joni Mitchell. Ein Rainbow Gathering ist eine Mischung aus Festival und Landkommune auf Zeit. Aufgrund der Abwesenheit jedweder Hierarchie sind diese Treffen ein Beispiel für Selbstorganisation und Anarchie. Autoput (Serbisch für Autobahn) meint die berühmt-berüchtigte Transitroute von Zagreb nach Skopje. Tsifteteli ist ein Bauchtanz, verbreitet in der Türkei und in Griechenland. Der griechische Schriftsteller Nikos Kazantzakis schrieb 1946 seinen bekanntesten Roman „Alexis Sorbas“. Der auf ihm basierende Film „Zorba the Greek“ von Michael Cacoyannis aus dem Jahr 1964 wurde mit drei Oscars ausgezeichnet. Die „Magische Kanäle“ von Marshall McLuhan, einem kanadischen Medientheoretiker, wurde 1968 in Deutschland veröffentlicht. Darin prägt er das Motiv von Medien als Erweiterungen des Menschen. Jede neue Technik verstanden als Medium hat persönliche und soziale Auswirkungen respektive setzt einen neuen Maßstab im menschlichen Zusammenleben. Die Karma-Kagyü Linie ist eine der vier Hauptschulen des tibetischen Buddhismus. Der Schwerpunkt wird auf die Praxis der Meditation gelegt, basierend auf der unmittelbaren Übertragung der Verwirklichung vom Lehrer zum Schüler. Ole Nydal, auch bekannt als Lama Ole repräsentiert die Lehren der tibetischen Karma-Kagyü-Schule. Seit Anfang der Siebzigerjahre bereist er die ganze Welt, hält Vorträge und Meditationskurse und gründet buddhistische Meditationszentren. Im Westen wird der Titel Bhagwan oft als ein Synonym für den Gründer der Neo-Sannyas-Bewegung benutzt. Die religiöse Bewegung um den Inder „Sri Bhagvan“ Chandra Mohan Rajneesh, der seit 1974 einen Ashram, ein religiös-therapeutisches Zentrum in Indien leitete. Rajneesh entwickelte ein Therapie- und Meditationsprogramm, in dem er psychische Selbsterfahrung nach der westlichen humanistischen Psychologie und der ihr verpflichteten Therapie mit religiös-mystischer Erfahrung nach östlichen Traditionen, wie tantrisches Yoga mit einer positiven Einstellung zur Sexualität, verband und in den Rahmen eines intensiven Meister-Schüler-Verhältnisses einfügte. Dieses Programm sollte der Entkrampfung und Auflösung gesellschaftlich festgelegter Ich-Strukturen dienen, an deren Stelle Selbstannahme und ganzheitliche Öffnung für das Göttliche, die reine Existenz im „Hier und Jetzt“, treten sollten. Die Lehre verstand sich als lebensbejahend, Askese wurde abgelehnt. Auf dem Höhepunkt der Bhagwan-Bewegung in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre wurde die Zahl ihrer Anhänger weltweit auf 200.000 geschätzt.

Wo sind sie hin, die Hippies, die einst sehnsüchtig auf dem Hippietrail nach Süden und nach Osten pilgerten? Eine Spurensuche

VON MANUEL GOGOS

Wild schweiften die Blumenkinder umher in Nachbars Garten. Ihr Weg führte, wenn auch häufig auf dem Umweg über die entlegendsten Weltgegenden Afrikas und Asiens, nach innen. Hier, bei ihren Versuchen, einen Weg ins Niemandsland der Meditation zu bahnen, haben die Pfadfinder von damals jede Menge Spuren hinterlassen. Die Hippies entdeckten als Erste einen spirituellen Weltmarkt und importierten seine Angebote als Heimwerker in ihren Alltag. Die damaligen Aussteiger aus der Normalität begannen damit, die Wirklichkeit als eine Art Rohstoff anzusehen, der in neuen Formationen wieder zusammengesetzt werden konnte. Das ist ein wichtiges Erbe der Bewusstseinsrevolutionäre bis heute.

Der Kanon heutiger Esoterikbuchhandlungen bildete sich im Grunde schon in den psychedelischen Shops von damals aus: diese typische, höchst eklektizistische Auswahl esoterischer Bücher von den Indianern Nordamerikas bis zum „Tibetischen Totenbuch“. Die Hippies äußerten als Erste den Verdacht, die jüdisch-christlich-abendländische Religionskultur sei mit ihrem Offenbarungs- und Glaubensdogmatismus – spirituell gesehen – in den Kinderschuhen stecken geblieben. Messianische Hoffnungen knüpften sich für sie an etwas anderes.

Es war das LSD, das für die „Psychonauten“ (nach dem LSD-Erfinder Hoffmann) zum „Brot der Wandlung“ wurde. Der Harvard-Dozent Dr. Timothy Leary, Hohepriester der Psychedelischen Revolution, beschrieb in seinen missionarischen Arbeiten seine Vision, die ganze Erde und ihre Menschen mit LSD zu heilen: „Drogen sind die Religion des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Der Tag wird kommen, an dem sakramentale Biochemikalien wie LSD so routiniert und zahm verwendet werden wie Orgelmusik und Weihrauch.“

Ähnlich groß war das Vertrauen auf die spirituelle Wunderwaffe Rauschgift auch in Carlos Castanedas „Don Juan“-Zyklus, dem Werk eines abtrünnigen Ethnologen, der mit seinen Büchern, die sich bis heute gut verkaufen, eine Lücke im spirituellen Hunger des Westens geschlossen hat: Ein mexikanischer Yaki-Indianer, der einen Studenten der Anthropologie zum Zauberer macht.

Der Plot ist gut gewählt für eine Leserschaft, die am liebsten selbst in „Tribes“ gelebt hätte, wie der Beat-Poet Gary Snyder damals schrieb: „Wir verwenden die Bezeichnung Sippe, weil das Wort eine neue Lebensart, eine neue Art der Gesellschaft und Kultur andeutet, die heute in den modernen Industrieländern auftaucht. In Amerika ruft das Wort Assoziationen mit den Indianern hervor. Die Indianer, die wir, die junge Generation, so sehr lieben. Was wir mit unserer Kultur meinen, die eine Subkultur genannt werden muss, steht in der Tat vielleicht dem am nächsten, was die Indianer gelebt haben und was in Europa von den Zigeunern gelebt wird.“

Der sanfte Tribalismus lebt fort – die jährlichen Treffen der Rainbow Gatherings, 1972 zum ersten Mal in den USA abgehalten, ziehen noch heute an unterschiedlichen Locations bis zu 40.000 Menschen an. Die Teilnehmer gehören den unterschiedlichsten Subkulturen der Siebziger- und Achtzigerjahre an: Esoteriker, ehemalige Hausbesetzer, Hippies, Ökos, Friedensaktivisten, Großstadtindianer, Aussteiger, Traveller und Indien-Freaks.

Keine dieser Spielarten ist so richtig je wieder aus der Subkultur verschwunden, und auf den Rainbow Gatherings geben sie sich ihr Stelldichein. Zwischen Plumpsklo und Hightech treffen sich heute in Costa Rica oder den Rhodopen indische Sitarspieler mit Rave-Discjockeys auf Freilichtbühnen, die mit Solar- und Windenergie versorgt sind.

Der Ursprungsmythos der Rainbow-Family geht angeblich auf eine Legende der Hopi-Indianer zurück, die besagt, dass sich ein neuer Stamm aus Menschen aller Erdteile zusammenfinden wird, um nach einer Epoche der Ausbeutung und des Krieges die Erde wieder zu heilen. Sofern nicht alte Hippies im Management dieser heilenden Happenings die Strippen ziehen, erlebt ihre Bewegung als Stichwortgeber einer globalisierten Zivilisationskritik doch immer wieder ihre Auferstehung.

Und auch die Landkommunebewegung der Hippies schwappte nach Europa und Deutschland über. „Roden statt Reden“ war das Motto von etwa dreißig Initiatoren aus verschiedenen Ländern, die 1973 in der französischen Provence die Kooperative „Longo maï“ gründeten. Österreicher, Franzosen, Schweizer, Deutsche, Engländer übernahmen drei verlassene Bauernhöfe, betrieben dort Landwirtschaft und Viehzucht und wurden zu Selbstversorgern. Seit dem Ende der Siebzigerjahre betrieb Longo maï eine Spinnerei und fertigte Kleidung. Als Gegenmodell zur kapitalistischen Ausbeutung gegründet („Wir spinnen ohne Chef“), besteht die Landkommune bis heute. Nach ihrem Vorbild entstanden Ableger in der Schweiz, in Deutschland, Österreich und in der Ukraine.

Inzwischen auf biologische Landwirtschaft umgestellt, wirtschaften sie erfolgreich. Ohne die hippieesken Aussteigerkulturen gäbe es heute wohl kaum Biokultur im Supermarkt. Während die Mother-Earth-Bewegung wollte, dass die Heilung von der roboterhaften Existenz der Städte aus einer radikalen Hinwendung zur Natur erwachse, suchte ein Teil der LSD-erprobten radikalen Minderheit in der technologischen Utopie ihr Seelenheil. Die meisten der frühen Computer-Designer entstammen dieser Szene in einer Gegend Kaliforniens, die inzwischen Silicon Valley genannt wird und die höchste Millionärsdichte der Welt verzeichnet.

Bernd Brummbär ist heute Webmaster im Valley. Mitte der Sechziger trampte der Beuys-Schüler als Pflastermaler durch Europa und zeigte seine Kreidezeichnungen im legendären Art’s Lab in London. 1968 entwarf er psychedelische Poster in Frankfurt am Main und gab die ersten deutschen Untergrund-Comics heraus. 1986 dann wurde Brummbär vom International Synergy Institute in Los Angeles eingeladen, mit ihrem Fairlight CVI Computer zu arbeiten, seit der Einführung des Personal Computers warb Brummbär für digitales Design, entwarf Grafik für Spiele und Spezialeffekte für den Film.

Es ist also nicht zuletzt den Hippies und ihrer Experimentierfreude, ihrer Begeisterung für „Magische Kanäle“ (Mc Luhan) und ihrem basisdemokratischen Verständnis für Informationsfluss zu danken, dass heute jeder allein vor seinem PC sitzt. Timothy Leary nannte seine Lebensgemeinschaft aus LSD-Gläubigen Ende der Sechzigerjahre Castalia nach der Brüderschaft aus Hermann Hesses Roman „Glasperlenspiel“. Später, in den Achtzigern, als er mit seinem Freund Bernd Brummbär an virtuellen Realitäten arbeitet, wird er die Bewusstseinselite aus dem Glasperlenspiel als erste Hackergemeinde deuten.

Noch ein weiteres Hesse-Buch erschien Leary als besonders visionär, ja geradezu prophetisch: „A Journey to the East“ respektive „Die Morgenlandfahrt“, eine fantastische Erzählung Hesses aus dem Jahre 1932, spielt in einer Zeit, in der es „eine außerordentliche Bereitschaft für das Überwirkliche gegeben“ habe. Beschrieben wird darin die Geschichte eines Geheimbundes, dessen Mitglieder von überall her gleichzeitig gen Osten ziehen. Verwoben wird das Ganze mit dem uralten literarischen Motiv der Orientreise. Bei ihren Vorstößen in ein „Reich der Seele“ werden, wie es da heißt, „Grenzen durchbrochen und Vorstöße in das Reich einer kommenden Psychokratie“ getan.

Und genau auf diesen Trip kommen die Hippies auch. Auf einer Route, die später der „Hippietrail“ genannt wird, und auf der die modernen Morgenlandfahrer frei nach einem Motto ihres Idols Bob Dylan unterwegs waren: „How does it feel? To be on your own / With no direction home / A complete unknown / Like a rolling stone.“ Dylan war in seiner Jugend Beatnik gewesen. Und auch das Vagabundieren, wie es die Hippies übten, hatte seinen Vorläufer in der Beat-Bewegung, die es in ihren Büchern wiederum von den Zenmeistern des Mittelalters herleiten wollen.

In Jack Kerouacs Buch „The Dharma Bums“ aus dem Jahre 1958 ist die Hauptfigur ein „Dharma-Gammler“, der zu Beginn des Romans auf einen rollenden Zug aufspringt und über sich nachdenkt, bis in ihm das Gefühl hochsteigt, als würde ein Kulissenschieber den ganzen Horizont verschieben. Durch den ganzen Westen und die Berge des Ostens trampend, entwickelt der Erzähler eine Vision: „Ich habe eine Vision von einer großen Rucksackrevolution. Große Horden wilder heiliger Männer, die zum Trinken und Reden und Beten zusammenkommen.“

Die Hippies halten sich strikt an die Anweisungen des Beatniks, wie man leben müsse. Bestenfalls vertauschen sie den Jazz („dann plötzlich war alles wie Jazz?“) gegen Rock, den Wein gegen Gras und lassen auch die Badehose noch weg.

Diese dionysischen Gesänge erinnern stark an einen anderen Lebenskünstler, dem die Hippies ebenfalls huldigten: Alexis Sorbas. Zwar hatte nicht jeder das Buch von Nikos Kazantzakis gelesen, das er übrigens unter dem Eindruck einer Japan-Reise geschrieben hatte; aber alle kannten die Verfilmung von Michael Cacoyannis aus dem Jahre 1964 mit Anthony Quinn in der Hauptrolle. Ein sechzigjähriger Mazedonier, der in seinem Tanz Schwerkraft und Schwermut aufhob – Sorbas, der Eingeborene, der Edle Wilde, war Kult. Durch seinen Tsifteteli auf die Musik von Mikis Theodorakis hat Quinn die Hippis aller Länder angestachelt, Griechenland als Rucksackterroristen zu überziehen. Mit Ledersandalen und Hirtentaschen machten sie sich auf der Suche nach dem authentischen Leben, in ihren nudistischen Tendenzen brachten sie – zur Zeit der Obristendiktatur – die bukolische Idylle nach Griechenland zurück.

Der Hippietrail führte nach Süden und nach Osten, manche kommen bis Ibiza oder Marokko (wiederum über die Literatur von Paul Bowles vermittelt), andere führte der Weg auf der ehemaligen Seidenstraße, auch bekannt als der „Autoput der Gastarbeiter“, über den Balkan in die Türkei, nach Afghanistan, Pakistan und Indien. Hippies lassen sich durchaus als Pilger begreifen, zugleich sind sie Pioniere des Tourismus. Viele machten Zwischenstation auf den griechischen Inseln.

Orte wie Matala auf Kreta haben daraus ihren eigenen Mythos geschaffen. Das Fischerdorf, das heute natürlich zubetoniert ist, ist vor allem für seine Höhlen am Meer berühmt, frühere Gräber oder Verstecke für Schmuggler und Wehrmachtswaffen, ehe die Hippies sie als Behausung entdeckten. Wilde, dionysische Strandpartys in den Nächten. Im Vollrausch meinte man die Gestalten des griechischen Mythos vorbeilaufen zu sehen. Man saß ums Lagerfeuer, hörte und spielte Gitarre, Bouzouki und Sitar, drei Kreise von Hippies drum herum, Gemeinschaftsgefühle grassierten, die möglicherweise in einer der Höhlen endeten. Sogar Hippie-Prominenz wie Leonard Cohen oder Janis Joplin sollen hier gesehen worden sein. Morgens dann die unschuldige Morgendämmerung über dem Meer. Der Blick von den Höhlen weiter oben hatte etwas vom siebten Schöpfungstag: Nur Steine, Feuer, Wasser, Licht. Sich dem Gefühl hingeben, in Richtung Afrika zu blicken – der perfekte Ort für eine Rückkehr ins Paradies. Die Griechen im Ort sahen das Treiben dieses Pandämoniums aus komischen Heiligen und Schnorrern mit einer Mischung aus Staunen, Amüsement und Mitleid an.

Eine Griechin nimmt für sich in Anspruch, den Mythos von Matala mehr oder weniger im Alleingang kreiert zu haben. „Mama Anthoussa“ hatte die Hippies so sehr ins Herz geschlossen, dass sie ihnen in ihrer Bäckerei sogar umsonst zu essen gab: Für die Katzen und die Hippies fiel immer etwas ab. Im Krankheitsfall machte sie Hausbesuche in den Höhlen. Ihre Freigebigkeit erwies sich zugleich als clevere Geschäftsstrategie. Ihre „Kinder“ kamen als New Yorker Arzt, Bonner Theologieprofessor oder Wiener Liedermacher wieder und konnten sich mit der Zeit auch finanziell erkenntlich zeigen.

Noch bis vor wenigen Jahren saß Mama Anthoussa mit ihrem Mann auf einer Holzbank vor ihrer Bäckerei und beobachte eine neue Form der Schwarmintelligenz: die touristische. Die Felshöhlen heute, mit Spitzhacken, Meißeln und Spachteln bearbeitet, weißgewaschen von Schergen der Obristen Anfang der Siebzigerjahre. Die Putzkolonne evakuierte die Höhlenbewohner und räucherte ihre Behausungen buchstäblich aus. Ein Zaun wurde gezogen. Den Rest besorgte die Sonne und die salzige Seeluft. Aus Matalas „sündiger Meile“ bildete sich eine Tradition des Nacktbadens, so ziemlich das Einzige, was sich bis heute gehalten hat.

Von hier zogen die Hippies weiter nach Istanbul. Im Viertel Sultan Achmed liegt noch heute der Puddingshop, diese legendäre Hippie-Anlaufstelle, auf dem Parkplatz davor parkte ein VW-Bus neben dem anderen, im Hintergrund die große Blaue Moschee. Am schwarzen Brett hinterlassen die Reisenden zahllose Zettel mit Botschaften für diejenigen, die ihnen nach Afghanistan oder Indien folgen wollten. Da sind wir heute etwas weiter. Auch Kabul wurde als Durchgangsstation bekannt und das sanfte Kathmandutal als Endziel der Hippieträume verklärt. Es war wirklich ein Massenexodus. 70.000 Hippies wurden allein in Kabul gezählt. Kabul, für die Morgenlandfahrer ein sagenumwobener Ort wie aus Tausend und einer Nacht.

Es war einmal – unendlich lang vor irgendeinem Auslandseinsatz der Bundeswehr –, dass Christian Burchard von der Berliner Krautrockband Embryo in der Chickenstreet mit verehrten afghanischen Musikern jammte. Die Geschäftsleute dort hielten allerdings wenig von den Weltenbummlern aus dem Westen: Einen halben Dollar am Tag, und da war die tägliche Dosis schon mit drin. Auf dem Friedhof von Kabul kann man Spuren ihrer Sehn-Sucht finden.

Wer die Drogen überlebt schlägt sich bis nach Indien durch. Lässt sich in Rishikesh mit dem Meister der Transzendentalen Meditation fotografieren oder lernt in Poona von Bhagwan Tantra als Körperarbeit und, wichtiger noch, dass man – angesichts seines potenten Fuhrparks – die Ideologie von der Enthaltsamkeit nicht zu ernst nehmen darf.

Peter Sloterdijk gehörte zu Bhagwans Adepten und hat ihn später einen „Wittgenstein der Religionen“ genannt. Individualtouristische Traveller folgen diesen Reiserouten bis heute. Als 1978 das erste maschinengeschriebene Südostasien-Handbuch von Stefan Loose erschien, glaubte kaum jemand an den Fortbestand dieses exotischen Ein-Mann-ein-Buch-Verlags.

Die Travel-Handbuch-Reihe hat sich mit ihren über vierzig Titeln in die Topografie des Ostens eingeschrieben: Kaum ein Traveller, der sich nicht auf die Locationscouts des Verlags verlässt. Innerhalb des Individualtourismus bürgen sie, mittlerweile vom DuMont-Reiseverlag in Köln vertrieben, dann doch für eine gewisse Zielsicherheit in Fragen von Schönheit, Komfort und Hygiene. Ohne Hippies keine Ferienclubs in unberührter Natur und Himalaja-Besteigung der vielen.

Where have all the flowers gone? Sie fahren heute als Filmemacher nach Australien, um über die Grenzen von Zivilisation und Wildnis zu berichten. Marksteine dieser Erschließung waren die Bücher von Hans Peter Duerr und Bruce Chatwin, die mit nomadischen Lebensformen und schamanistischen Nachtflügen vertraut machen. Viele unserer namhaften Meditationsmeister haben in der Hippiebewegung ihre Grundausbildung genossen. 1966 schmuggelte der dänische Lama Ole Nydahl noch Haschisch aus dem Nahen Osten. Die Zeit in Untersuchungshaft nutzte er für Meditation. 1968 kommt er erstmals nach Nepal und wird Schüler des sechzehnten Karmapa, des Oberhaupts der tibetischen Karmakagyü-Linie. Während er heute als Repräsentant seiner Schule überall in der westlichen Welt Zentren bildet und damit gewissermaßen das Werk christlicher Missionare umkehrt, rät er seinen Schülern eindringlich, sich von Drogen fernzuhalten.

Andere sind nie aus Indien zurückgekommen. In Goas Küstendörfchen begegnet man noch heute Leuten, die auf ihrem Easy-Rider-Trip hängen geblieben sind. Oder die auf den institutionalisierten Hippiemärkten ihren Hippietand an die jüngeren Goa-Trance-Touristen verscherbeln und damit aus dem Look von Paradiesvögeln ein einträgliches Geschäft machen. Eine Gegenkultur von europäischen Yogies und Sasshus setzte sich in Goa, Kabul und Kathmandu bis hin in die zenbuddhistischen Klöster Kyotos fest. Ihre Verwandlung ist heute perfekt, wie der Dokumentarfilm „Hippie Massala“ (2006) von Ulrich Grossenbacher zeigt: Eine spindeldürre Gestalt mit langem Bart und hochgestecktem, verfilzten Haar wäscht sich in einem schlammigen Fluss des zentralindischen Hampi.

Die Gestalt heißt Cesare, stammt aus Italien und gehört ebenfalls zu den Hippies, die Mitte der Sechzigerjahre das Paradies in Indien suchten. Cesare fand im Leben als Yogi seine Bestimmung. Ausgemergelt wie ein Wüstenheiliger, an seinem phallischen Chillum schmauchend, die Augen blutunterlaufen, lächelt er irgendwie wissend. Der „letzte Mohikaner“ der modernen Morgenlandfahrt? Oder doch role model einer alternativen Kultur, wie sie heute die Neohippies der Rainbow People weltweit reinszenieren.

MANUEL GOGOS, Jahrgang 1970, ist freier Autor und Ausstellungsmacher, unter anderem kuratierte er die Ausstellung „Die 68er. Kurzer Sommer, lange Wirkung“ im Historischen Museum, Frankfurt am Main