Kolumne Das Schlagloch: Holy Man

Der Fußball wird weiblicher - aber ist das auch wirklich gut so? Fragen Sie mal mein neues Vorbild Günter Netzer!

Fahrradhelme sind eine Zumutung. Es gibt im Alltag kaum etwas, das ich so hasse wie Fahrradhelme. Auf Erwachsene. Unter siebzig. Fahrradhelme sind noch schlimmer als Birkenstock-Schuhe und Burberryschals zusammen. Und mir scheint: Fahrradhelme werden immer mehr getragen. Obwohl ich mich redlich bemühe, jedem Lebensjahr eine neue Erfahrung abzutrotzen, muss ich doch zugeben, dass der Umgang mit dieser Tatsache eine wirklich neue Grenzerfahrung bedeutet, eine Herausforderung bei der ich meine eigenen Ansprüche an heiteren Gleichmut bis an die Schmerzgrenze austesten kann. Aber ich habe jetzt, was den Umgang mit höchstmöglicher Abneigung angeht, ein Vorbild gefunden. Günter Netzer.

Zwischen den Spielen gegen Kroatien und Österreich wurde ja breit über die Frage debattiert, wie denn sein könne, dass diese Mannschaft so armselig spiele und was denn da nur passiert und eventuell zwischenmenschlich los sei, uswusf. … Delling und Netzer guckten sich einen Bericht über das Leben der deutschen Mannschaft in ihrem Hotel an, und irgendein Spieler erzählte mit leuchtenden Augen, dass inzwischen der Psychologe da gewesen und nun alles wieder gut sei. "Am Schluss konnten wir uns sogar alle in die Augen schauen", lautete der letzte, enthusiastisch hervorgestoßene Satz.

Zurück ins Studio zu den beiden Männern, dem alten und dem jungen. Dellings Gesicht spiegelte das Glück des soeben Gezeigten. Das passiert einem ja schon mal, dass man automatisch zurücklacht, wenn sich einer im Fernsehen freut, aber im Gesicht von Herrn Netzer wurde im Tausendstel-Sekunden-Zeitraffer eine lange Geschichte von Fassungslosigkeit, Abneigung, Spott, Hochmut und Verachtung erzählt, die sich zuerst in Beherrschung und Vernunft veränderte und schließlich in eine persönliche Erkenntnis umsetzte. Es war wunderbar, diesem Prozess in Echtzeit zuzugucken.

Netzer hat ein so großflächiges Gesicht, dass man alles darin sehen kann. Gerade weil er es bewusst so unbewegt hält, ist es so gut zu erkennen. Er hob sinngemäß an: "Ich glaube zwar nicht, dass In-die-Augen-Gucken zum besseren Fußballspielen verhilft", um sich dann zu dem versöhnlichen Satz zu entschließen, "aber ich bin aus einer Generation, in der man nicht so einen selbstverständlichen Umgang mit Psychotherapie hatte." Und dann fügte er, mit einer raffiniert gezielten Indiskretion dem jungen Herrn Delling einen kleinen Hieb versetzend, noch hinzu: "Oder mit Psychoanalyse. So wie Sie." Für mich persönlich war das ein noch schönerer Tanz als das Spiel der Spanier.

So muss man mit seinen eigenen Vorurteilen umgehen, dachte ich: Erst in versammelter Heftigkeit kommen lassen, Mund geschlossen halten, alles vorbeiziehen lassen, und dann etwas Verbindliches sagen, ohne sich geschlagen zu geben … So wurde Günter Netzer mein Vorbild. Von da an habe ich keine Spielübertragung im Ersten mehr ausgelassen. Und ich bin traurig darüber, erst in zwei Jahren wieder etwas von ihm lernen zu können.

Es liegt natürlich daran, dass ich keine Ahnung von Fußball habe. Und mich auch nicht wirklich dafür interessiere, was ein Abseits oder eine Grätsche ist. Ich liebe das an- und abschwellende Geräusch von Gesängen, Trommeln und Schreien wie eine Hintergrundmusik zu dem, was ich gerade tue: aufräumen, kochen, rumsitzen. Manchmal halte ich inne bei dem, was ich tue, und gucke zu. Meistens wird es mir langweilig, wenn nichts passiert, aber manchmal ertrage ich auch die starken Emotionen nicht, wenn zu viel passiert. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich zischend die Luft zwischen den Zähnen hindurch einziehe, wie mir ein "Uuuiii" entfährt oder ein "ach du Kacke". Was würde Günter Netzer jetzt tun?, frage ich mich dann und bewege probehalber meine Lippen langsam von einer Gesichtshälfte in die andere, um durch äußere Nachahmung (beliebtes Gestalttherapiekonzept!) ein Gefühl vom Inneren meines neuen Guru zu bekommen.

Alles war früher vorstellbar: Altgriechisch oder Sanskrit studieren, Teppiche weben oder eine Gärtnerei betreiben - aber niemals wäre ich darauf gekommen, dass ich bei Fußballmeisterschaften in erwartungsvoller Freude den Fernseher einschalte.

Aber ich bin ja nicht allein. Wer am Montag die Bilder vom Brandenburger Tor gesehen hat, musste feststellen: Zur Begrüßung der Mannschaft auf der Fanmeile waren eindeutig mehr Mädchen als Jungen gekommen. Auch vorher bei den Spielen im Stadion waren sie überall zu sehen: Mädchen, Mädchen, Mädchen. Und fast alle sahen so aus wie die alte und die zukünftige Freundin von Bastian Schweinsteiger.

Nun entspricht die Rolle der hübschen und anfeuernden Bewunderin von durchtrainierten Sportlern durchaus dem landläufigen Geschlechterklischee, aber die bessere deutsche Nationalmannschaft wird ja inzwischen auch von Mädchen und Frauen gestellt. Die sind seit 1989 (bis auf einmal, 1993) durchgängig Europameister und zweimal Weltmeister geworden!

Dieser verblüffende Wandel sollte uns - und vor allem den Funktionären - zu denken geben. Wir wissen doch aus den Sozialwissenschaften, wie zwiespältig das Vorrücken von Frauen in Männerbastionen betrachtet wird. Fest steht: Sind die Frauen dort erst richt angekommen, bedeutet es den Niedergang des professionellen Images. Siehe Sekretär und Lehrer. Was waren das mal für angesehene Berufe!

Unklar bleibt weiterhin, was zuerst war: der Niedergang des Berufsbildes - deshalb dürfen Frauen die frei werdenden Plätze einnehmen - oder Frauen erobern sich neue Räume - deshalb verliert der Beruf sein Image.

Könnte die Tatsache, dass Frauen wie ich Günter Netzer anbeten, junge Mädchen stundenlang auf Fußballspieler lauern und die deutsche Frauenfußballmannschaft mehr Meisterschaftstitel als ihre männlichen Kollegen einheimsten, könnte dies bedeuten, dass sich die Sportart auf dem absteigenden Ast befindet? Grölende Prolls als Sinnbild von Fußballfantum sind es jedenfalls. Jetzt ist der fröhlich fahnenschwenkende, gemäßigt patriotische, aber sachkundige Profifan gefragt.

2011 findet die Frauenfußball-Weltmeisterschaft in Deutschland statt. Vielleicht gelingt es der ARD in der Zeit bis dahin, ein ähnlich hochkarätiges Moderatorinnenteam zu casten. Das wird allerdings nicht einfach sein. Beide Rollen sind inzwischen perfekt präsentiert und geradezu spirituell aufgeladen.

Wenns mit dem Präsidentenamt nicht klappt, könnte Gesine Schwan den Netzer machen. Sie müsste allerdings ihr Lachen auf ein Drittel reduzieren. Man hat schon beim Dalai Lama gesehen, wie schnell das auf die Nerven gehen kann.

Und sie müsste in dieser Zen-boshaften Gleichgültigkeit Dinge sagen können wie der Meister. Als Mönch Delling ihn auf das rot-gelbe Tüchlein (Schwarz konnte man auf dem schwarzen Hintergrund nicht sehen, es hätten also auch die spanischen Farben sein können!) im Revers ansprach, entgegnete er mit dem diesjährigen deutschen Koan: "Ich bin aus mir herausgegangen und habe mein Bestes gegeben."

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