Moskauer Soziologe zum russischen Selbstbild: "Es reicht, auf Augenhöhe zu sein"

Russland ist ohne die USA nicht in der Lage sich selbst zu finden, sagt der Moskauer Soziologe Alexej Lewinson. Wie zu Zeiten der UdSSR wirkten die USA als identitätsstiftende Kraft.

Bush und Putin bei den Olympischen Spielen in Peking. Bild: dpa

taz: Die Russen atmen auf. Der Krieg gegen Georgien hatte eine kathartische Wirkung. Stimmt dieser Eindruck?

Alexej Lewinson: Die Menschen sind erleichtert, weil sie wieder Klarheit haben. Die USA als Gegner haben die alte Rolle wiedererlangt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Annäherung an den Westen in den 90er-Jahren war die Mehrheit der Russen verunsichert. Plötzlich war der Feind zum Freund geworden. Nur wenige konnten damit umgehen. Sie mussten sich verstellen, als hegten sie freundschaftliche Gefühle. Heute entsprechen die früheren Vorbehalte wieder der offiziellen Linie und es gehört zum guten patriotischen Ton, die USA zu verdammen. Der Krieg hat die innere Blockade gelöst.

Warum sind die USA lebenswichtig für das russische Bewusstsein?

Das ganze Leben war in der UdSSR danach organisiert, der Systemkonkurrenz mit den USA standzuhalten. Dieser Gegensatz beherrschte die Gesellschaft. Plötzlich brach die klare Ordnung weg. Nichts trat an ihre Stelle; es erwies sich auch noch der jahrelange Verzicht als umsonst.

Die USA sind der Geburtshelfer des russischen Selbstverständnisses?

Für das kollektive Bewusstsein sind die USA unverzichtbar. Ohne Amerika, das "bedeutende Andere", ist Russland nicht in der Lage, zu sich selbst zu finden. Seit Generationen misst es sich an den USA. Mal reibt es sich nur, mal versucht es die USA einzuholen, mal glaubt es sich überlegen oder schmollt - wie in jüngster Zeit, wenn Washington Moskau nicht auf Augenhöhe begegnet. Das Verhältnis hat mit dem realen Amerika jedoch nichts zu tun, es spiegelt lediglich die Beziehung der Russen zu sich selbst wider. Amerika ist die Maßeinheit der Selbstachtung. An ihr ist abzulesen: So viel Autorität schreibt sich Russland zu und dementsprechende Anerkennung erwartet es.

Warum denkt auch die Jugend noch in den alten UdSSR-Kategorien?

Schulen und Universitäten haben sich nicht verändert. Auch die Medien bedienen weiter die überkommene Matrix.

Woran lässt sich die US-Fixierung im Georgienkrieg festmachen?

In den von uns gemachten Interviews tauchen Georgien und Südossetien gar nicht auf, alle wollen gleich über die USA und Geopolitik sprechen. Der Waffengang war ein Zusammenprall mit den USA, kein gewöhnlicher Krieg, sondern ein nebulöser Kampf in den Wolken. Niemand nahm jedoch den triumphalen Duktus der Siegesmeldungen aus der Presse auf. Den meisten war lediglich eines ganz wichtig: "Die Armee hat nicht verloren." Man nannte den Erfolg nicht Sieg, weil es unmöglich ist, die USA zu besiegen. Man will das "Andere" auch nicht besiegen. Es reicht, mit ihm wieder auf Augenhöhe zu sein.

Sieht es die Elite genauso wie die Bürger?

Am Tag des Kriegsausbruchs waren Putin und Bush in Peking. Putin sagte im Fernsehen: " Ich habe mich gleich an George gewandt und George hat mir gesagt …" Spricht man so mit einem Feind? Putin spielt das nicht. In seinem Selbstwertverständnis bewegt er sich mit Bush jetzt wieder auf einer Höhe. In Putins Umgebung denken alle so. Die Elite nimmt Vorstellungen der Unterschichten auf, gibt sie in die Gesellschaft zurück und macht sie hoffähig. Den Menschen sagt diese Wesensverwandtschaft zu.

Wie geht es in der alten Logik jetzt weiter?

Mich überrascht, wie viele einen Dritten Weltkrieg heraufziehen sehen. Allerdings hat "Weltkrieg" eine neue Bedeutung erlangt. Es handelt sich nicht mehr um Nuklearkriege, sondern konventionelle Kriegsgänge, die sich über die Welt verteilen. Überall wird Russland mit den USA zusammenprallen. Die Menschen freuen sich darüber. Viele erinnert das mit Schadenfreude an den Vietnamkrieg. Die Sowjetunion war damals nicht direkt beteiligt, blieb ohne Verluste, aber die USA erlitten eine schwere Niederlage. Viele in Russland sind heute wieder bereit, sich gegen die ganze Welt zu stellen.

Niemand fürchtet, im Krieg umzukommen?

Nein, Russland ist wieder auf den Beinen, meinen die Männer, und sie fürchten sich nicht. In einer Umfrage vor drei Jahren fragten wir schon mal nach den Überlebenschancen. Die Antworten waren eindeutig: Wir überstehen einen Krieg, erleiden aber große Verluste. Die Sprache war der des Zweiten Weltkrieges entlehnt. Die potenziellen kolossalen Opfer spielen, wie nicht selten in Russland, keine Rolle. Wir sind Zeuge, wie das nationale Ganze mit Hilfe der negativen Identität wiederhergerichtet wird. Der Militarismus und die aggressive Verfolgung eigener Interessen hängen mit inneren Prozessen russischer Identitätsbildung zusammen. Sie haben nichts mit radikalen politischen Verschiebungen zu tun.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH

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