Debatte Bildungsgipfel: Nebelkerze Bildung

Angela Merkel besetzt das Bildungsthema und lenkt von Fragen der Umverteilung ab. Der aktuelle Bildungsgipfel konzentriert sich bezeichnenderweise auf die Elitebildung.

Seit geraumer Zeit ist "Bildung" zu einem gesellschaftlichen Schlüsselthema avanciert und daher von der Bundeskanzlerin, die ein Gespür für solche Themenkonjunkturen besitzt, schnellstens zur politischen "Chefsache" erklärt worden. Bildung gilt ihr als Zauberformel für einen politischen Befreiungsschlag zur Lösung aller Kardinalprobleme der Bundesrepublik: Fachkräftemangel, demografische Krise und Armut. So wird im dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung eine Verbesserung der "Teilhabe- und Verwirklichungschancen" gefordert und die Bildung als "Schlüssel für Teilhabe und Integration" bezeichnet.

Niemand bezweifelt, dass Armut mehr bedeutet, als wenig Geld zu haben. Natürlich ist das Resultat von Armut eine vielschichtige Benachteiligung und eine ungleich höhere Belastung der Betroffenen gerade in den Bereichen (Aus-)Bildung, Kultur, Gesundheit, Wohnen und Freizeit. Dies verleitet manche Analysten und Kommentatoren dazu, Armut auf die "Bildungsferne" oder Sozialisations- bzw. Kulturdefizite der finanziell Schlechtgestellten zurückzuführen, und hat Angehörige materiell besser gestellter Schichten immer schon veranlasst, die Armen nach dem Motto "Geld macht ohnehin nicht glücklich" zu verspotten.

"Aufstieg durch Bildung" verspricht die Bundesregierung den sozial Benachteiligten. Bildung stellt aber ein nur begrenzt taugliches Mittel gegen (Kinder-)Armut dar. Denn sie vermag zwar durch soziale Diskriminierung entstandene Partizipationsdefizite junger Menschen abzufedern, sie kann aber nicht verhindern, dass materielle Ungleichgewichte auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen durchschlagen. Was unter günstigen Umständen zum individuellen Aufstieg taugt, versagt als generelles Patentrezept. Denn wenn alle Jugendlichen - was natürlich wünschenswert wäre - mehr Bildungsmöglichkeiten bekämen, würden sie womöglich um die immer noch viel zu wenigen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplätze nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen konkurrieren.

Bildung wirke gegen die Armut viel eher und nachhaltiger als Umverteilung etwa von Steuergeldern, nicht zuletzt deshalb sei Letztere auch völlig überholt, heißt es allenthalben. Die meisten Stichworte des heute für zwei Stunden angesetzten Dresdner Bildungsgipfels, seien es die Verfolgung einer "Hightech-Strategie", der Ruf nach "Fortsetzung und Vertiefung der Exzellenzinitiave" an den Hochschulen oder das Bekenntnis zu einem "Pakt für Forschung und Innovation", lassen jedoch deutlich erkennen, dass es gerade nicht um die spezifische Förderung der Kinder aus sozial benachteiligten Familien geht. Vielmehr wurde die Elitebildung, die Verwirklichung von Standortinteressen und Renommierprojekten im Sinne der mächtigen Wirtschaftslobby auf die Agenda gesetzt.

Wer von der Bildung als "neuer sozialer Frage" spricht und die Bildungs- als "Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts" bezeichnet, ignoriert einfach, dass man sein Armutsrisiko durch schulischen Erfolg oder hervorragende berufliche Qualifikation immer schon verringern konnte, und konstruiert einen Gegensatz zwischen zwei Politikfeldern, die seit jeher miteinander verzahnt sind. Will er gleichzeitig von der Schule über die Weiterbildung bis zur Universität alle Bereiche privatisieren, ist Unglaubwürdigkeit die logische Folge. Denn in einem solchen Bildungssystem stoßen Kinder nur noch auf Interesse, wenn sie (bzw. ihre Eltern) als zahlungskräftige Kunden firmieren. Kontraproduktiv wirken denn auch die Beschneidung der Lernmittelfreiheit (Verpflichtung der Eltern zur Zahlung von Büchergeld), die Schließung von (Schul-)Bibliotheken aus Kostengründen und die Einführung von Studiengebühren.

Es ist ein Widerspruch unserer Zeit, dass man Bildung immer mehr zu einer Ware herabwürdigt und sie gleichzeitig als Wunderwaffe im Kampf gegen die Kinderarmut betrachtet. Eine gute Bildung weitet zwar den geistigen Horizont und erleichtert zweifellos den beruflichen Aufstieg, beseitigt aber nicht das gesellschaftliche Problem einer in den Strukturen des Gegenwartskapitalismus wurzelnden Armut. Eine bessere (Aus-)Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne Erwerbslosigkeit und (Kinder-)Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen. Hierfür bedarf es in einem Land, das noch nie so reich wie heute war, weiter der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen.

Dass die Regierungsparteien das Mantra "Bildung, Bildung, Bildung" nach Art einer tibetanischen Gebetsmühle ständig wiederholen, verweist auf einen im neoliberalen Sinn veränderten Gerechtigkeitsbegriff: Selbst wenn die soziale Gerechtigkeit nicht unter Hinweis auf die Globalisierung als "Standortrisiko" im Kampf um Absatzmärkte und Großinvestoren denunziert wird, ist der Zwang zur ökonomischen Selbstverwertung an die Stelle des Rechts auf persönliche Selbstverwirklichung getreten. Man lässt die Pädagogik das Verhalten der Armen ändern und verzichtet auf eine Politik zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Armut hervorbringen. Zu fragen wäre freilich, weshalb die Bedeutung des Geldes für die Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben ausgerechnet zu einer Zeit gesunken sein soll, wo es in sämtlichen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist.

"Geld oder Bildung?" ist eine Scheinalternative, denn weder studiert ein leerer Bauch gern, noch macht Bildungshunger die Armen satt. Ohne entsprechende Finanzmittel steht etwa die Chance für Erwerbslose, an Fortbildungskursen teilzunehmen und ihre persönlichen Arbeitsmarktchancen zu verbessern, nur auf dem Papier. Es ist pure Heuchelei, den Armen "Bildet euch!" zu predigen, im Regelsatz für Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen dafür jedoch keinen einzigen Cent vorzusehen. Insofern fungiert Bildung als politisch-ideologische Nebelkerze, die den Zusammenhang zwischen materieller Not und geistiger Verelendung überdeckt. Statt die Armen mit dem leeren Versprechen einer "Bildung für alle" (Angela Merkel) abzuspeisen, sollte man ihnen zum Beispiel durch eine spürbare Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes mehr Ressourcen zugestehen, damit sie es auch wirklich einlösen können. Bildungspolitik wirkt zudem als Beruhigungspille für die Mittelschicht, der sie ihre Angst vor dem sozialen Abstieg nehmen soll.

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