Debatte Finanzkrise: Pharaonen von heute

Mit der Finanzkrise wird der Staat wieder als Vertreter des Allgemeinwohls entdeckt. Wie er auf Notlagen reagieren kann, dazu gibt es reichlich historische Erfahrung.

Wenn man nicht gerade Sozialist war, dachte man früher, es sei gesund und richtig, dass die einzelnen Bürger, die Unternehmer und Banker, nur an ihre eigene Tasche denken. Denn über diesen egoistischen Kräften schwebe eine unabhängige Instanz, die sie unter Kontrolle habe: der Staat. Während der egoistische Bereicherungstrieb der Einzelnen das Wirtschaftsleben in Gang halte, garantiere der Staat das Allgemeinwohl.

Die bewegende Kraft, die man dem Staat - im Unterschied zur Gesellschaft - zuschrieb, nannte man "Vernunft". Diese Auffassung stammt aus der Aufklärung und wurde von Hegel auf die Spitze getrieben ("Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist"). Sie ist aus der Mode gekommen.

Rechts und links waren sich darin einig, dass sie falsch sei. "Es gibt keine objektive Vernunft. Der Staat vertritt notwendigerweise die Interessen der herrschenden Klasse", war die Meinung auf der linken Seite. Man folgte der Botschaft Foucaults, "Wir wollen nicht regiert werden". Diese Botschaft drückte sich in mehreren Denkrichtungen aus: "Wir brauchen keine Lenkung von oben. Wir möchten in einer Risikogesellschaft leben, in der die Diskurse der Lebenswelt maßgebend sind und die Kräfte der Zivilgesellschaft ungehindert miteinander rangeln."

So konnte sich die Ansicht derer durchsetzen, die einmal die politischen Gegner gewesen waren. Die liberale Auffassung der Wirtschaftsvertreter wurde Allgemeingut: "Der Staat kann das freie Spiel der Kräfte nur stören. Die Konkurrenz von Angebot und Nachfrage ist die ideale Selbstregulierung. Sie funktioniert von innen und von allein. "Private vices, public benefit" - die privaten Laster verwandeln sich automatisch in das allgemeine Gute. "Laissez faire, laissez aller!" Der Staat darf sich nicht einmischen. Man muss ihn in möglichst engen Grenzen halten."

Diese Haltung hat jetzt ihr Waterloo erlitten. So mancher, der noch vor Kurzem den Staat hintanhalten wollten, ruft jetzt: "Das hätte der Staat doch verhindern müssen! Dazu ist er doch da!"

Nein, dazu ist er schon lange nicht mehr da. Die öffentliche Meinung hat ihn aus dieser Rolle hinausgedrängt. In das Vakuum ist die Lobby der Wirtschaft geflossen, die sich jetzt ohne Sinn und Verstand Unsummen zuschaufelt, von denen niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen. Der Staat als Vertreter des Allgemeinwohls muss erst wieder aufgebaut werden. Niemand ist dazu imstande außer der öffentlichen Meinung, die ihn ruiniert hat.

Ein hoffnungsloses Unternehmen? Das Unternehmen wäre hoffnungslos, wenn nicht ein weltgeschichtlicher Glücksfall eingetreten wäre: Ausgerechnet in dieser verzweifelten Lage steht dort, wo sich die mächtigste Staatsgewalt der Welt bündelt, ein Mann, der den Staat wieder auf traditionelle Weise versteht (und den Bereicherungstrieb der Banker "shameful" genannt hat). Obama nimmt den fallen gelassenen Faden der Aufklärung wieder auf und möchte das ausführende Organ der Vernunft sein.

Wie kann die öffentliche Meinung den Staat wieder zum Vertreter des Allgemeinwohls machen? Sie muss zunächst einmal das Vertrauen in die Möglichkeit vernünftiger Entscheidungen zurückgewinnen. Die philosophischen Zweifel an dieser Möglichkeit, die während der postmodernen Ära gesät wurden, müssen ausgeräumt werden. Zielgerichtetheit und Zweckorientierung müssen rehabilitiert werden. Vorsorgende Regulierung darf nicht mehr generell als "Fahrt ins Blaue" abgewertet werden (wie der Soziologe Niklas Luhmann es tat).

Welche Vorkehrungen gebietet jetzt die objektive, von den Einzelinteressen losgelöste Vernunft? Wenn die Arbeit ein knappes Gut wird, muss sie geteilt werden. Teilzeitarbeit muss, wenn es ernst wird, zur Vorschrift gemacht werden. Der Gesetzgeber muss sie für den Notfall vorbereiten, auch wenn es keine Lobby gibt, die sie verlangt. Sie ist "nur" objektiv vernünftig. Warum hat sie keine Lobby? Die Gewerkschaften vertreten die Interessen derer, die Arbeit haben, und den Arbeitslosen fehlt das Druckmittel des Streiks. Die Unternehmer sind an der Teilzeitarbeit nicht interessiert, weil sie Mehrkosten verursacht. Diese Mehrkosten gezielt auszugleichen - das wäre eine würdigeres Geldausgeben als die blinde Bedienung der Lobbyisten.

Anregungen für die Tätigkeit der objektiven Vernunft bietet die Geschichte. Aus der Geschichte könne man nicht lernen, wird gern gesagt. Darauf hat Alexander Rüstow (in dessen Geist diese Überlegungen stehen) geantwortet: Woraus denn sonst, wenn nicht aus der Geschichte? "Habt ihr denn keine Geschichten?" war (bei Thomas Mann) die empörte Frage, die Josef an seine Brüder stellte, weil sie nicht dafür gesorgt hatten, dass auch in Notzeiten genügend Öl für die Lampe des alten Vaters vorhanden war. "Habt ihr denn keine Geschichten?" sollte heißen: Habt ihr denn die historischen Erfahrungen mit Notlagen nicht tradiert? Benehmt ihr euch denn wie die ersten Menschen?

Josef ist bis heute dafür berühmt, dass er - als rechte Hand des Pharaos, in großem, staatlichem Maßstab - während der sieben fetten Jahre ausreichend Vorräte angelegt hat, um das Überleben der Ägypter während der sieben mageren Jahre zu sichern. Wir haben diese Geschichte, und wir haben auch noch viele andere Geschichten, die von vernünftigen Lösungen erzählen.

Zum Beispiel: die Geschichte vom Bau der Akropolis. Im fünften Jahrhundert vor Christus, als Perikles Athen regierte, war in der Stadt ein massenhaftes Proletariat entstanden, das nicht in ihre Wirtschaft integriert werden konnte. Das monumentale Bauprojekt, das gleichzeitig eine Befestigungsanlage und repräsentative Versammlungsräume schuf, konnte das Arbeitslosenproblem lösen. Bis heute strahlen seine Ruinen als Sinnbild der Vernunft über das Meer.

Ein weiteres, jüngeres Beispiel: der amerikanische New Deal. Als Franklin Roosevelt im März 1933 die Regierung antrat, organisierte er eine riesige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, in der ein acht Staaten umfassendes Gebiet um das Tennessee Valley herum elektrifiziert wurde. Der Tennessee und seine Nebenflüsse bis hinauf zu ihren Quellen wurden mit Staudämmen versehen, die Unmengen an billiger Elektrizität produzierten und dadurch die Wirtschaft ankurbelten. Binnen weniger Jahre waren viele Millionen Menschen in Arbeit.

Genau wie der Bau der Akropolis waren die Projekte des New Deal "zusätzlich". Das heißt: Sie machten der Wirtschaft keine Konkurrenz. Sie waren kreativ, das heißt: Sie schufen Arbeit. Ein neuer, optimistischer, vom Gleichheitsgedanken und der Gerechtigkeitsidee beseelter Geist zog in die USA, der sich bis heute günstig auswirkt. Wenn damals Woodie Guthrie mit seiner Gitarre sang: "This is my land, and this is your land" - "Dies ist mein Land, und es ist dein Land" -, so drückte sich darin kein Nationalismus aus, sondern die Identifizierung mit dem Allgemeinwohl.

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