Debatte Nahostkonflikt: Vom Dogma zur Floskel

Wer einen Frieden im Nahen Osten will, der kommt an der Hamas nicht mehr vorbei. Der Westen hätte es in der Hand, den Pragmatismus bei den Islamisten zu befördern.

In Kairo wird noch immer um eine Waffenruhe im Gazastreifen und eine Aufhebung der Blockade gerungen. Die Hamas fordert, dass die Grenzübergänge für Warenlieferungen geöffnet werden - Israel dagegen will die Grenzen nicht öffnen, bevor nicht der entführte israelische Soldat Gilad Schalit freigelassen wird. Von Frieden ist man so weit entfernt wie je. Nur eines hat der Gazakrieg deutlich gemacht: An Verhandlungen mit der Hamas führt kein Weg mehr vorbei. Denn der israelische Versuch, sie mit Gewalt von der Macht in Gaza zu vertreiben, ist gescheitert.

Inzwischen fordern europäische Politiker wie Tony Blair, der Sonderbeauftragte des Nahostquartetts, die Hamas stärker einzubinden - etwa in einer palästinensischen "Regierung der nationalen Einheit". So weit war man schon einmal nach dem Januar 2006, als die Hamas bei den Wahlen zum palästinensischen Legislativrat einen Erdrutschsieg erlang. Doch damals lehnten die damalige US-Regierung und die EU jede Zusammenarbeit ab. Die Hamas sei eine terroristische Organisation, die das Existenzrecht Israels ablehne, so die Begründung. Dabei war die Tatsache, dass sich die Hamas überhaupt an den Wahlen beteiligt hatte, ein Indiz dafür, dass der politische Pragmatismus bei ihr die Oberhand gewonnen hatte. In ihrem Wahlprogramm hatte sie zwar weiterhin das Recht auf Widerstand betont und die Zusammenarbeit der palästinensischen Sicherheitskräfte mit dem israelischen Besatzungsregime kritisiert. Andererseits hatte sie sich zu Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats bekannt und vor allem versprochen, mit der Korruption in der Autonomiebehörde aufzuräumen.

Das waren ganz andere Töne als in ihrem Gründungsdokument, der Charta von 1988. Damals war die Hamas noch für die Errichtung eines "islamischen Staats" in ganz Palästina eingetreten und damit für eine Zerstörung Israels. Doch heute hat die Nationalcharta für die Mehrheit der Hamas-Kader keine Relevanz mehr. So haben sich politische Gefangene von Hamas und Fatah, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, im berühmten "Gefangenendokument" vom 28. Juni 2006 zum gemeinsamen Ziel eines palästinensischen Staats in den Grenzen von 1967 bekannt, und Israel damit implizit anerkannt. Sowohl Ismail Hanijeh, Kopf der Hamas in Gaza, als auch Chaled Meschal, ihr Anführer im syrischen Exil, haben dies wiederholt als offizielle Position der Hamas bekräftigt.

Die Hamas lehnt es jedoch ab, Israel explizit anzuerkennen, solange dessen Regierung weder die Grenzen des eigenen Staats definiert noch den Palästinensern einen eigenen Staat zugesteht. Eine solche gegenseitige Anerkennung könne nur das Ergebnis, nicht aber Vorbedingung von Verhandlungen sein, so ihre Haltung. Die USA und die EU hätten es in der Hand gehabt, den Pragmatismus bei der Hamas zu befördern. Stattdessen bestrafte man all jene, die der Partei ihre Stimme gegeben hatten, indem man alle Hilfen für die neue Regierung aussetzte, und beförderte dadurch die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt.

Die USA unterstützten sogar aktiv den Putschversuch des Sicherheitschefs der Fatah, Mohammed Dahlan, gegen die Hanijeh-Regierung im Gazastreifen. Die Hamas kam dem zuvor, indem sie ihrerseits putschte und Dahlan und seine Leute im Juni 2007 aus dem Gazastreifen vertrieb, was die Spaltung der Palästinenser vertiefte. Was folgte, ist bekannt: die Blockade des Gazastreifens, mit der Israel versuchte, dessen Bevölkerung auszuhungern, sowie der Raketenbeschuss israelischer Ortschaften, den der israelische Historiker Tom Segev mit einem "Gefangenenaufstand" verglich.

Aber was will die Hamas? Niemand brauchte einen Waffenstillstand in Gaza so nötig wie sie, schließlich wollte sie ja ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen. So versuchte sie zunächst, das Waffenstillstandsabkommen mit Israel vom Juni 2008 rigoros gegen andere bewaffnete Gruppen durchzusetzen, obwohl sich Israel selbst nicht an seinen Teil des Abmachung hielt, und seine Gazablockade nicht lockerte. Erst nachdem israelische Truppen am 4. November 2008 in den Gazastreifen eindrangen und sechs Hamas-Funktionäre töteten, versuchte die Hamas - und andere Gruppierungen in Gaza, einschließlich der lokalen Fatah - die israelische Seite mit Kassam-Raketen zum Einlenken zu zwingen. Doch da war Israels Kriegsmaschine bereits angelaufen.

Eine völlige Entmilitarisierung der Hamas dürfte derzeit unrealistisch sein - im Gegenteil, nach dem Gazakrieg denken auch andere Fraktionen wieder verstärkt über militanten Widerstand nach; selbst die Fatah hat ihre Al-Aksa-Brigaden schließlich nur teilweise demontiert. So lange der Westen keinen Druck auf Israel ausübt, eine Friedenslösung mit den Palästinensern zu suchen, werden sich palästinensische Organisationen diese Option offen halten.

Die Hamas wird gern als "radikalislamistisch" bezeichnet. Doch Vergleiche mit islamistischen Terroristen à la al-Qaida greifen zu kurz. Sicher war die Hamas in der Vergangenheit immer wieder in schreckliche Anschläge gegen israelische Zivilisten verwickelt - wie andere palästinensische Organisationen auch, einschließlich der "moderaten" Fatah. Doch anders als die Anschläge von al-Qaida, muss man sie im Kontext einer Besatzungsgewalt sehen, die in den letzten acht Jahren mehr als fünftausend Palästinensern das Leben gekostet hat - auch hier meist Zivilisten.

Die Hamas ist vor allem eine Grassroot-Bewegung, die Sorgen und Ansichten eines wichtigen Teils der palästinensischen Bevölkerung artikuliert. Neunzig Prozent ihrer Gelder gehen in Sozialprojekte. Wie die meisten sozialen Bewegungen, ist auch die Hamas weder homogen noch statisch, sondern teilt sich in verschiedene Flügel: in moderate Pragmatiker, theologische Fundamentalisten und bewaffnete Brigaden. Anders als andere Islamisten, sucht die Hamas zudem die Anerkennung durch den Westen; ihre Beziehungen zum Iran sind eher taktischer Natur. Die meiste Unterstützung bekommt sie aus den Golfländern, wo man sie als Bündnispartner entdeckte, nachdem sich die PLO dort mit ihrer Begeisterung für den irakischen Einmarsch in Kuwait desavouiert hatte.

Über die Zwischentöne in ihrer Rhetorik sollte man nicht hinweghören. Hamas-Gründer Scheich Jassin, der durch eine israelische Rakete ermordet wurde, schlug schon in den Neunzigerjahren einen langfristigen Waffenstillstand ("hudna") von 20 bis 50 Jahren vor - vorausgesetzt, Israel stelle seine Angriffe auf palästinensische Zivilisten ein und zöge sich aus den besetzten Gebieten zurück. Eine endgültige Lösung müsse dann von späteren Generationen gefunden werden, meinte er. Sein Konzept einer "hudna" schlug eine Brücke vom theologischen Dogma, dass kein Muslim auch nur einen Quadratmeter muslimischen Bodens aufgeben dürfe, zu einer pragmatischen Lösung auf der Basis der UN-Beschlüsse. Auf dieser Grundlage könnte eine künftige Verhandlungslösung aufbauen. IVESA LÜBBEN

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