Folter als Gewohnheitsrecht

USA Der Mehrheit der Amerikaner sind alle Mittel recht, der Bedrohung durch vermeintliche Terroristen zu begegnen – das hat Tradition

■ 1926 in New York geboren, lehrte als Professor für Soziologie an der Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kennedy. Er war Mitbegründer der New Left Review und ist im Redaktionsausschuss von The Nation. Er schreibt für taz, El País und andere.

Die Berichte und die Fotos von Folterungen, die von US-Streitkräften (und dem CIA) verübt worden sind, waren für manche Bürger ein Schock. Andere hießen sie gut. Die meisten aber haben sie kaum berührt. Aktuelle Meinungsumfragen legen nahe, dass die Nation in dieser Frage gespalten ist, wobei eine Mehrheit von Befürwortern einer Minderheit von strikten Gegnern gegenüber steht. Meinungsumfragen jedoch sind kein adäquates Mittel, um herauszufinden, was die Öffentlichkeit über Ereignisse denkt, die irgendwo weit entfernt passieren – Ereignisse, die zudem laut und wiederholt als unverzichtbar für die Sicherheit der Nation gerechtfertigt werden.

Möglicherweise würde sich die öffentliche Meinung drehen, wäre eine entschiedene Anstrengung seitens des Präsidenten oder des Kongresses zu erkennen, die Verantwortlichen für die Folter tatsächlich identifizieren zu wollen: etwa mithilfe einer schmerzhaften öffentlichen Befragung und einer möglichen juristischen Verfolgung des früheren Präsidenten, seines Vizes, des Verteidigungsministers und seiner führenden militärischen und zivilen Berater.

Schaut nach vorn, nicht zurück!

Doch Präsident Obama hat sich entschlossen, Schritte dieser Art zu vermeiden. Die Leader der Demokraten in Kongress und Senat waren daher eifrig darum bemüht, wissensdurstige Demokraten zu entmutigen. Der Präsident und die demokratische Parteispitze sind der Ansicht, eine solche Untersuchung würde das Land spalten, und zwar mit unabsehbaren politischen Folgen – die wiederum die Position des Präsidenten gefährden könnten. Indem er die Folter unterbunden hat, befindet der Präsident, habe er das Äußerste getan. Er könne nicht den Rest seines Regierungsprogramms gefährden, um die Moralvorstellungen einer Minderheit zu befriedigen. Sein Aufruf „Schaut nach vorne und nicht zurück!“ paraphrasiert diese Position, und er verspricht seinen Vorgängern Immunität. Was viele Republikaner, angeführt vom früheren Vizepräsident Cheney, aber nicht davon abhält, den Präsidenten mit zunehmender Aggressivität zu attackieren.

Folter gehörte lange zu unserem Alltag. Routinemäßig setzte die amerikanische Polizei sie ein, um Häftlinge zu bestrafen oder Geständnisse zu erzwingen. Folter wurde toleriert; Kino und Populärliteratur feierten sie sogar als legitimes Mittel, um die soziale Ordnung gegen Missetäter zu verteidigen. Weiße quälten Schwarze, im Land Geborene misshandelten Immigranten. Die Gutsituierten engagierten Schlechtergestellte als Folterknechte, um den sozialen Bodensatz zu kontrollieren.

Trotz gelegentlicher Rückfälle gab es in der letzten Zeit jedoch bemerkenswerte Fortschritte, diese ganz normale Brutalität der Polizei zu unterbinden. Diesmal aber sind die Gefolterten der US-Gesellschaft völlig fremd. Zusammen mit dem Argument, dass die Folter notwendig sei, um für die nationale Sicherheit notwendige Informationen zu erpressen, erleichtert es diese Distanz, die institutionalisierte Gewalt zu akzeptieren. Nun werden vermehrt jene, die das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit auch auf Operationen gegen „Terroristen“ ausgedehnt sehen wollen, der selbstverliebten Sentimentalität bezichtigt – häufig von denjenigen, die auch die Restriktion der Polizeigewalt im Inneren kritisieren.

Die Debatte um Folter ist auch eine über die schier unbegrenzte Machtfülle des Präsidenten geworden. Obamas Justizministerium bestand darauf, dass die Regierung das Recht habe, Beweise zurückzuhalten, sofern sie „Staatsgeheimnisse“ gefährdeten. Der Präsident hat erklärt, dass einige der gefangenen „Terroristen“ auf unbestimmte Zeit in präventivem Gewahrsam bleiben müssten – ohne Gerichtsverfahren. In diesem Punkt hat Obama das juristische Erbe von Georg W. Bush zu seinem eigenen gemacht. Und zwar in direktem Widerspruch zu seinen Versprechen im Wahlkampf und zum krassen Missfallen vieler, die ihn unterstützt haben.

Erst Nation, dann Republik

Obama ist weniger unehrlich als viele andere Politiker. Dennoch bleibt er Gefangener einer Situation, die sowohl Folter legitimiert als auch die Doktrin einer unbegrenzten Macht des Präsidenten verteidigt. Ein beträchtlicher Teil unserer Gesellschaft begreift das Land zuerst als Nation und lediglich in zweiter Linie als Republik. Viele Amerikaner sind der Ansicht, ihre Sicherheit hänge davon ab, dass die Feinde im Ausland unschädlich gemacht werden. So sehr unseren Eliten in den meisten anderen Angelegenheiten die Kompetenz fehlt – beim Erfinden von neuen äußeren Bedrohungen sind sie extrem erfolgreich. Und: Während der Krieg im Irak in der öffentlichen Wahrnehmung schon zu lange dauert, ist das Urteil über den Krieg in Afghanistan noch nicht gefällt.

Obama hat seine Wahl nicht als Absage der kontinuierlichen US-Machterweiterung im Ausland interpretiert. Er hat sie vielmehr als Aufruf begriffen, die Methoden zu verändern. Aber nun merkt er, dass Maßnahmen oft nicht zu trennen sind von den Zielen, die sie verfolgen: Es ist eben nicht möglich, einen Krieg zu führen, ohne Zerstörung und Tod zu verursachen. Ebenso wenig leucht es ein, von amerikanischen Soldaten zu erwarten, dass sie sich in lebensgefährlichen Situationen wie Entwicklungshelfer benehmen. Der Glaube, dass die Existenz der USA von Feinden bedroht ist, die einen asymmetrischen Krieg gegen die USA führen, legitimiert jede Maßnahme gegen sie. Jede – und damit auch die Folter.

Indem er die Folter unterbunden hat, befindet Präsident Obama, habe er das Äußerste getan

In einer Nation, deren innere Geschichte von repressiver Gewalt geprägt ist, kann die Ablehnung von Folter auf eine lange Tradition moralischen Dissenses bauen. Solange die Debatte um Folter jedoch losgelöst ist von einer Debatte um die Zukunft und die Legitimität des amerikanischen Empire, solange verliert sich dieses moralische Dissidententum im Nichts.

In den Augen der führenden politischen Kräfte konnte der Streit um die Folterungen bislang kontrolliert werden. Es bleibt abzuwarten, welchen Effekt er längerfristig haben wird – sollte er einen haben. NORMAN BIRNBAUM

Aus dem Amerikanischen von Ines Kappert