Wie wählen Sie – taktisch oder mit Herz?
TAKTISCH

ENTSCHEIDUNG Erststimmen, Zweitstimmen, Koalitionsaussagen, Überhangmandate – und spätestens in der Wahlkabine stellt sich die Frage, was den Ausschlag gibt: der Verstand oder das Gefühl?

Max Herre, 36, Popsänger, wurde in den Neunzigern mit der Band Freundeskreis bekannt

Bei der Bundestagswahl geht es ja nicht darum, ein System oder eine Weltanschauung zu wählen, sondern darum mitzubestimmen, wie sich der Bundestag zusammensetzt. Deshalb wähle ich taktisch. Nach meinen Überzeugungen kann ich die zukünftige Regierung sowieso nicht wählen – ich gebe keiner Partei einen Freifahrtschein. Also möchte ich wenigstens die bestmögliche Opposition unterstützen. Und das ist nicht unbedingt die Partei, an der uneingeschränkt mein Herz hängt, sondern die, von der ich glaube, dass sie die Regierung am besten kontrolliert und kritisiert.

Götz Werner, 65, ist Chef der Drogeriemarktkette dm und fordert ein Grundeinkommen

Um mit dem Herzen wählen zu können, müsste eine Partei es schaffen, mich auf dieser Ebene anzusprechen. Am Beispiel meiner Herzensangelegenheit, des bedingungslosen Grundeinkommens, zeigt sich aber, dass sich die Parteispitzen mit dem Wort „bedingungslos“ sehr schwer tun. Es ginge um praktizierte Geschwisterlichkeit und damit um Nächstenliebe. Doch die Parteispitzen bevorzugen ihre Parolen von „Fordern und fördern“ und meinen, erst fordern zu müssen, bevor sie Zuwendungen ermöglichen. Anstatt den Bürgern Zutrauen entgegenzubringen, setzen sie auf Kontrolle. Aus diesem Grund kann ich nicht mit dem Herzen wählen.

Giovanni di Lorenzo, 50, ist seit 2004 Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit

Eigentlich halte ich die Diskussion um das taktische Wählen für überbewertet. Bei den meisten Menschen, die sich vornehmen, aus strategischen Gründen eine Partei zu wählen, obsiegt in der Wahlkabine dann doch das Gefühl. Dennoch – ich wähle dieses Mal taktisch, weil es mir wichtig ist, die Volksparteien zu stärken. Denn die Idee einer Volkspartei ist an sich eine gute: möglichst viele Menschen zu vertreten. Eine Volkspartei ist ja schon eine große Koalition in sich – mit dem Ziel, einer weiteren Zersplitterung der Gesellschaft in Egoismen entgegenzuwirken. Ich wünsche mir, dass dieser Gedanke auch nach dem 27. September noch Anklang findet.

Dieter Drabiniok, 55, Grünen-Mitbegründer, hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt

Für meinen Verstand müsste es die Möglichkeit der Stimmenthaltung geben. Beim „Ungültig“-Wählen lässt sich nicht zwischen Absicht oder Dummheit unterscheiden – es zwingt die Politik nicht zum Nachdenken. Gleiches gilt für das Nichtwählen. Die Feststellung von Enthaltungen ist bei jeder anderen Abstimmung völlig normal. Über eine Prozentzahl „Enthaltungen“ könnte diskutiert und politisch nachgedacht werden. Das würde die Wahlbeteiligung anheben, ohne dass der Wähler gezwungen wäre, sich für das kleinste Übel zu entscheiden, obwohl ihm dabei schlecht wird.

Bernhard Wunderlich, 34, Rapper von Blumentopf, hat ein Lied „Geh zur Wahl“ geschrieben

Da in Bayern zum Glück die Zeiten der absoluten Mehrheit für die CSU vorbei sind und trotzdem fast alle Wahlkreise an die CSU-Kandidaten gehen, könnte es erstmals zu CSU-Überhangmandaten kommen. Um dies zu verhindern, wähle ich als Münchener mit der Erststimme taktisch und gebe sie dem aussichtsreichsten Gegenkandidaten. Meine Zweitstimme vergebe ich nach Überzeugung. Einschränkung: Ich ziehe nur Parteien in Betracht, die Chancen haben, die Fünfprozenthürde zu knacken. Etwas Kompromissbereitschaft muss man in einer Demokratie mitbringen.

MIT HERZ

Philipp Lahm, 25, spielt Fußball beim FC Bayern München und in der Nationalmannschaft

Mit der Wahl der Partei verhält es sich ja nicht wie mit einem Fußballverein, von dem man von Kindheit an Fan ist und auch bleibt, egal wie schlecht er spielt. Wenn ich eine Partei wähle und sie spielt schlecht, dann mache ich mir schon Gedanken und wähle nächstes Mal möglicherweise eine andere Partei. Bislang habe ich aber meine Stimme immer derselben Partei gegeben. Wichtig ist mir dabei vor allem, dass die Partei meine persönlichen Interessen vertritt, wie zum Beispiel Zielstrebigkeit und Familienpolitik – ich bin da eher konservativ. Insofern wähle ich nach meinen Überzeugungen.

Konstantin Wecker, 62, ist Musiker, Schauspieler, Buchautor und Friedensaktivist

Auch wenn es dieses Mal darum ginge, Schwarz-Gelb zu verhindern, ich wähle trotzdem nicht taktisch. Für mich ist das ganz klar: Ich wähle mit Herz links! Jeder weiß, dass die Linke nicht an die Macht kommen wird, ich bin auch gar nicht sicher, ob ich das unbedingt möchte. Obwohl: Rot-Rot-Grün würde mir schon ausgesprochen gut gefallen. Aber als Opposition will ich die Linke unbedingt stärken. Schon allein, um ein Statement gegen diese neoliberalen Lügen zu setzen. Auch finde ich, dass es die einzige Partei ist, die eine klare anti-militärische Haltung zeigt – und ich bin Pazifist. Und für mich ist das auch keine utopische Träumerei, sondern ein realistisches, sozialdemokratisches Projekt, das ich unterstützen will. Deshalb ist das für mich die einzig mögliche Herzenswahl.

Monika Lüke, 40, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland

Ich wähle mit Herz! Bei der Entscheidung, welcher Partei ich meine Stimme gebe, spielt meine Sozialisation eine wichtige Rolle, ich habe eine politische „Seelenheimat“. Die Werte müssen stimmen, und ich muss bestimmte Grundsatzentscheidungen teilen. Dabei standen für mich immer Fragen, die unmittelbar die Grundrechte betreffen, im Vordergrund. Ich erwarte nicht, dass ich alle Positionen der von mir gewählten Partei teile, denn politische Kultur ist für mich auch konstruktive Streitkultur. Die Parteiprogramme sind kaum aussagekräftig, voller politischer Allgemeinplätze. Bei den tagesaktuellen Fragen gibt es auch zahlreiche Politikbereiche, in denen mir das Expertenwissen zur Beurteilung der Entscheidungen fehlt. Das Herz regiert auch, weil ich nur wenige haltbare Bezugspunkte für den Wahlverstand finde.

Günter Grass, 81, Nobelpreisträger, SPD-Mitglied und einstiger Brandt-Wahlkämpfer

Selbstverständlich soll der verantwortungsvolle Bürger sich an Inhalten und Personen orientieren, mit Herz und Verstand und nicht taktisch wählen. Ich schätze an Frank-Walter Steinmeier seine aus Kenntnis und Erfahrung gesättigte Nachdenklichkeit, die große populistische Geste ausschließt, nachprüfbares Vertrauen weckt und deshalb die Zustimmung der Wähler verdient.

Thomas Krüger, 50, ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

In meinem Leben gab es viele Situationen, in denen ich mich fürs Taktische hätte entscheiden können. Besonders bis 1989 in der DDR, das hätte vieles leichter gemacht – raus aus der Bedrängung, rein in die SED. Diesem Ruf bin ich nicht gefolgt. Heute, bei dieser Wahl, gilt erst recht: Ich habe die Wahl, und das werde ich aus vollem Herzen genießen und zelebrieren. Für die Partei, die meinen Überzeugungen am nächsten ist. Meine Empfehlung ist: „Listen to your heart“.