„Mit den Aussteigern sprechen“

SOZIALDEMOKRATIE Die europäische Linke ist erschöpft – das zeigt das jüngste Debakel der SPD. Eine rechte Dominanz bestehe aber auch nicht , meint der französische Politikprofessor Marc Lazar

■ lehrt Politische Wissenschaften an Universitäten in Paris und Rom. Er hat zahlreiche Studien über die Befindlichkeit der französischen, italienischen und europäischen Kommunisten und Sozialdemokraten veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: L’Italie contemporaine, Éditions Fayard, Paris, 2009.

taz: Herr Lazar, ist das Debakel der SPD bei den Bundestagswahlen auch eine Warnung für die französischen Sozialdemokraten?

Marc Lazar: Das Scheitern der SPD ist ein weiteres Signal für den immer alarmierenderen Zustand der Linken in Europa. Aber manche Sozialisten in Frankreich sehen darin eher einen Trost.

Trost – inwiefern?

Die französischen Sozialisten (PS) ersparen sich den Vorwurf, die einzigen zu sein, die Schwierigkeiten haben.

Befindet sich denn die komplette europäische Sozialdemokratie im freien Fall?

Nein. Portugal und Norwegen bilden Ausnahmen. Sie zeigen, dass nicht alles im Niedergang ist. Und 2010 werden wir zwar wohl den Absturz der Labour-Partei erleben, aber die schwedischen Sozialdemokraten werden das möglicherweise ausgleichen.

SPD und PS verlieren nicht nur bei den Wahlen – sie verlieren auch Mitglieder.

Die Linke begegnet quer durch alle europäischen Länder vor allem einem Phänomen: der Enthaltung. Die, die sich nicht mehr an Wahlen beteiligen, sind wenig politisiert, wenig gebildet, in sozialer Not und Arbeitslosigkeit, eben ein wesentlicher Teil der traditionellen Anhängerschaft der Linken. Zu diesen Aussteigern müssen die Linken sprechen. Das muss gelingen. Wir sind an einem Wendepunkt.

Was sind die Unterschiede zwischen den „sozialdemokratischen“ Deutschen und den „sozialistischen“ Franzosen?

Die französische PS gehört – zusammen mit den italienischen, spanischen und portugiesischen Parteien – zu den „Sozialisten aus Südeuropa“. Diese Parteien waren traditionell mit einer sehr starken kommunistischen Konkurrenz konfrontiert und haben deswegen bis in die 80er-Jahre relativ radikale Position gepflegt – im Gegensatz zum sozialdemokratischen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital. Außerdem hatten sie keine ähnlich engen Beziehungen zu den Gewerkschaften.

Im Niedergang sind sich aber alle reformistischen Parteien in Europa gleich.

Die Labour-Partei ist mit dem blairistischen dritten Weg gescheitert, die SPD mit der großen Koalition. Die französische PS mit der Unentschiedenheit zwischen radikaler Linker und Zentrum. Und die Demokratische Partei in Italien weiß gar nicht, ob sie überhaupt noch links sein will. Lauter Sackgassen. Egal welche strategische Wahl sie treffen, die linken Parteien leiden.

Was genau ist das Problem?

Die linken Reformisten stecken in einem strategischen Dilemma: Sollen sie mit dem Zentrum oder mit den Kräften links von ihnen zusammenarbeiten? Und dann die Identitätsprobleme: Sie berufen sich auf den Sozialismus, aber es fällt ihnen schwer, exakt zu bestimmen, was das eigentlich heute ist. Dazu kommt: Die reformistische Linke hat keinen Kontakt zu den normalen Leuten. Ihr typischer Wähler ist über fünfzig und arbeitet eher im öffentlichen Bereich. Sie erreicht die Jugendlichen nicht, die in einer prekären Situation leben. Und es fällt ihr schwer, die Beschäftigten in der Privatwirtschaft anzusprechen. Außerdem hat die reformistische Linke in Europa Schwierigkeiten mit der aktuellen Form der Demokratie. Heute zählen Führungsfiguren.

Aber die europäischen Sozialdemokraten haben doch Charismatiker hervorgebracht – siehe Blair und Schröder.

Blair und Schröder haben jene Linke verkörpert, die an die Macht kommt, die gewinnen kann. Zugleich haben sie mit ihrer Politik dazu beigetragen, die linke Identität zu verwischen. Ein Teil ihrer Wähler hat die Ausrichtung ihrer Politik nicht mehr verstanden.

Wieso gelingt es der Sozialdemokratie nicht, die Weltfinanzkrise politisch zu nutzen?

Vor den Europawahlen dachten reformistische Parteien: Jetzt werden die Wähler merken, dass der Liberalismus in der Sackgasse ist – und wir reagieren mit einer modernisierten Sozialpolitik. Die Linke hat aber ihre Wählerschaft durch ihre eigene Machtausübung aus der Fassung gebracht. Wir sind alle von der Krise betroffen. Aber heute lautet das Zauberwort: individuelle Lösung. Wir befinden uns in einer Logik des Individualismus und nicht in einer der kollektiven Aktion.

Hat das Quasi-Verschwinden der eurokommunistischen Parteien auch das Verschwinden der Sozialdemokratie eingeleitet?

Wichtiger ist etwas anderes: die enorme Transformation unserer Gesellschaften ab den 1970er-Jahren: das Ende der industriellen Gesellschaften, das Ende der Klassenbasis. Die postindustrielle Gesellschaft ist individualistischer, die sozialen Kategorien sind anpassungsfähiger und es gibt weniger Identifizierung mit sozialen Gruppen vom Typ der Arbeiterklasse. Insbesondere die Unterschichten fühlen sich von ihren Parteien im Stich gelassen. Sie haben ihre Arbeit und ihre politische Identität verloren. Sie flüchten sich in die Enthaltung oder zu Protestparteien. Und sie schlagen sich individuell durch.

Welche Auswirkungen hatte das Ende des realen Sozialismus ?

Die Linke hat das Ausmaß des Zusammenbruchs des Kommunismus im Osten unterschätzt. Ein allmächtiger Staat, eine bürokratisierte Wirtschaft und eine Reihe von Werten wie die Gleichheit und selbst der Begriff des Sozialismus sind kompromittiert worden. Die Sozialdemokraten meinen, das wäre nicht ihr Problem. Sie sagen: Wir haben die Kommunisten immer bekämpft. Aber der Zusammenbruch des Sozialismus, das Ausmaß seines wirtschaftlichen Rückstandes, seiner Umweltdesaster und seines niedrigen intellektuellen Niveaus hat nicht nur die kommunistische, sondern die komplette Linke getroffen.

Ist die Sozialdemokratie damit am Ende?

Wir führen diese Debatte nicht zum ersten Mal. Auch in den 1950er-Jahren, unter Adenauer, ging es der SPD sehr schlecht. Und in den 1960er-Jahren fragten Politologen: Was bleibt von der Linken? Ich bin Historiker und Politologe, nicht Futurologe. Ich weiß nicht, ob das für immer ist. Als Schröder, Jospin, Blair und Prodi in den 90er-Jahren siegten, wollten alle Journalisten Erklärungen für die Niederlagen der Rechten haben.

Sie bleiben optimistisch?

Anders als die Kommunisten haben Sozialdemokraten noch viele organisatorische und militante, menschliche und intellektuelle Ressourcen. Das zeigt sich auch bei den Wahlergebnissen auf der lokalen und regionalen Ebene. Trotz der Verluste bleibt die europäische Sozialdemokratie eine reale Kraft.

Die Unterschichten fühlen sich im Stich gelassen. Sie haben Arbeit und politische Identität verloren

In Deutschland ist der SPD mit der „Linken“ eine neue Konkurrenz entstanden. In Frankreich tummeln sich links von der PS gleich mehrere Parteien. Also Krise der Sozialdemokratie, nicht Krise der Linken?

Die Spaltungen der Linken werden zahlreicher. Es gibt eine Erschöpfung des klassisch sozialdemokratischen Modells. Aber die Linke ist weit davon entfernt, zu verschwinden. Das gilt ebenso für die radikale Linke wie für die reformistische Linke.

Wie definieren Sie linke Politik?

Als Streben nach Gleichheit. In unseren Gesellschaften werden die Ungleichheiten immer deutlicher. Das große Problem ist, eine politische Antwort zu finden, die es der Linken erlaubt, die phänomenalen Transformationen unserer Gesellschaften zu lesen und Antworten zu geben. Sie muss eine politische Formel finden, um die linken Kräfte zu sammeln – eventuell auch mit dem Zentrum. Die Linke ist nicht tot. Aber sie ist ein einer sehr schwierigen Situation. Sie muss konkrete Maßnahmen vorschlagen. Früher war es der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Heute muss sie einerseits den Sozialstaat organisieren und andererseits ökonomische Imperative berücksichtigen; sie muss das Problem der Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen angehen, zwischen den Generationen. Sie muss die Ökonomie entwickeln und die ökologischen Fragen integrieren. Es gibt viele Baustellen für die Linke. Wenn es ihr gelingt, ein klares, rekonstruiertes politisches Angebot zu liefern, ist alles möglich.

Die Christdemokratin Angela Merkel hat es geschafft, dass ihre Politik stellenweise als „sozialdemokratisch“ bezeichnet wird.

Das ist Teil der großen Transformation der Rechten in Europa. Die Linke hat das nicht kommen sehen. Die Rechte hat es geschafft, der Linken eine Reihe von Themen abzunehmen. Sie hat sie vereinnahmt und in Einklang mit einer neoliberalen Politik gebracht.

Wie beschreiben Sie den Zustand des rechten politischen Lagers in Europa?

Der Linken, die zunehmend fragmentiert ist, die ihre Tatkraft verloren und kein veritables Projekt hat, steht eine Rechte gegenüber, die sehr pragmatisch ist, die geeinter ist und die eine Fähigkeit hat, ein sehr breites politisches Spektrum abzudecken. Außerdem spielt die Rechte mit etwas, das heute im Zentrum der politischen Reaktionen der Europäer steht: der Angst. Sie bietet sich als die Kraft an, die schützt. Die Sicherheit ist ein Thema, das sich besonders bei kleinbürgerlichen Wählern auszahlt. Denn die leiden am stärksten unter der Unsicherheit. Die Rechte hat also Rückenwind. Aber wenn Sie die Resultate von der CDU betrachten oder die von der UMP bei den letzten Europawahlen, stellen Sie fest, dass sie nicht stärker werden. Es gibt keine dominierende Rechte, die neue Wählerschaften erobert.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN