Debatte Afghanistan: Vormarsch der Neo-Taliban

Die Taliban sind wieder erstarkt, weil sie eine klare Strategie haben. Der Westen kann ihnen nicht mit den Rezepten des 19. Jahrhunderts begegnen.

Als die USA und ihre Alliierten vor acht Jahren in Afghanistan einmarschierten, wurden sie von der Mehrheit der Bevölkerung noch als "Befreier" begrüßt. Doch seitdem haben die Taliban immer mehr Terrain zurückerobert, und heute stehen sie fast wieder so gut da wie vor dem Krieg.

Wundern kann das nur, wer die Taliban für primitive Wilde hält, die erst kürzlich den Faustkeil durch schultergestützte Panzerfäuste ersetzt haben. In Wahrheit sind sie eine weltweit operierende Organisation mit kohärenter Strategie, globaler Ideologie, modernen Kommunikationsmitteln und überaus geschickter PR. Stärker als in den Neunzigerjahren, kooperieren die Neo-Taliban heute mit radikalen Islamisten aus aller Welt, die sich als Teil des Al-Qaida-Netzwerks verstehen.

In Afghanistan und Pakistan streben sie danach, ein "Islamisches Emirat" zu errichten. Dabei bedienen sie sich eines antikolonialen Reflexes, der sich in der muslimischen Welt vor allem gegen die Vorherrschaft der USA richtet. In Afghanistan nutzen sie jeden Fehler der internationalen Streitkräfte (wie die Bombardierung von Hochzeitsgesellschaften etc.), um der Bevölkerung weiszumachen, dass die Ausländer ihre wahren Feinde seien. In Pakistan haben sie es mittels illegaler Radiosender geschafft, in den paschtunischen Stammesgebieten quasi das Informationsmonopol zu erobern. Über Wiederaufbauprojekte vor Ort erfahren die Menschen dort - meist Analphabeten - deshalb in der Regel nichts. Stattdessen werden die Regierungen in Kabul und Islamabad als korrupte Marionetten des Westens dargestellt. Daran ist leider mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Den Propagandakrieg haben die Taliban deshalb schon längst gewonnen.

ist Südasien-Korrespondentin bei Weltreporter.net und lebt in Neu-Delhi. 2003 gründete sie eine Initiative, die in Afghanistan Journalisten ausbildet. Für ihr Wirken für die deutsch-indischen Beziehungen wurde sie kürzlich mit dem Gisela-Bonn-Preis ausgezeichnet.

Zwar gehören die Taliban mehrheitlich dem Volk der Paschtunen an, und ihre Ideologie basiert zu einem ebenso großen Teil auf dem paschtunischen Ehrenkodex Paschtunwali wie auf einer radikalen Islam-Interpretation. Doch die Taliban sind weit mehr als nur "paschtunische Stammeskrieger". Denn Afghanistans traditionelle Stammesstrukturen sind seit dem Einmarsch der Sowjets völlig zerrüttet.

Der Erfolg der Taliban beruht darauf, dass sie in diese Lücke stoßen und die Leerstelle mit ihrer Ideologie füllen. Statt auf Stammesälteste setzen sie auf Mullahs als lokale Anführer, und wer immer sich ihnen widersetzt, wird gnadenlos bekämpft. Jeder, der mit der Karsai-Regierung kooperiert, riskiert deshalb sein Leben - das gilt für paschtunische Führer wie für Journalisten oder Frauenaktivistinnen. Die Menschen leben daher in dauerhafter Angst.

Einen modernen Staat könnten die Taliban vermutlich nicht führen. Was sie aber geschafft haben, ist, Strukturen zu schaffen, die einen fehlenden Staat ersetzen. Wie die Mafia in Italien oder Osteuropa haben sie in ländlichen Regionen Afghanistans ein alternatives Regierungssystem etabliert. Der Regierung Karsai ist es nicht gelungen, dem etwas entgegenzusetzen, und daran trägt die internationale Gemeinschaft eine Mitschuld. Wo es weder Polizei noch Justiz gibt, halten die Taliban ihre Scharia-Gerichte ab und sorgen damit auf ihre Art für Ordnung. So sicherten sie sich schon in den Neunzigerjahren eine gewisse Sympathie der Bevölkerung.

Nach Schätzungen der US-Regierung erzielen die Taliban bis zu 400 Millionen Dollar im Jahr aus dem Drogenhandel. Doch das ist nicht ihre einzige Geldquelle. Die Taliban finanzieren ihre Operationen über ein ausgeklügeltes Finanznetzwerk, zu dem auch eine internationale Spendenakquise und kriminelle Aktivitäten gehören. In den reichen Golfstaaten werden Gläubige zur großzügigen Unterstützung des "Dschihad" angehalten, und in Ländern wie Pakistan unterhalten die Taliban auch eigene Wohltätigkeitsorganisationen.

Eine weitere Finanzquelle sind Entführungen. Außerdem sind die Terror-Operationen der Taliban "so billig, dass sie sie auf ewig aus lokalen Geschäften und Spenden finanzieren könnten", meinte kürzlich der Ex-CIA-Agent Kenneth Katzmann in der Washington Post. Schließlich haben die Taliban ihre Waffe des Selbstmordattentats perfektioniert. Gilles Dorronsoro vom US-Think-Tank Carnegie Endowment kommt deshalb zum Schluss: "Die Taliban sind ohne Zweifel die beste Guerillabewegung in der Geschichte Afghanistans."

Erst das Land, dann die Stadt

Der Hauptgrund für ihren Erfolg aber ist, dass die Taliban derzeit die einzigen sind, die in Afghanistan eine Strategie zu haben scheinen. Nicht stark genug, um die großen Städte einzunehmen, setzen sie sich erst einmal auf dem Land fest. Im Norden, wo ihnen die Basis fehlt, arbeiten sie mit anderen Gruppen und Führern wie Gulbuddin Hekmatjar zusammen. Im Zusammenspiel mit den pakistanischen Taliban haben sie sich in Balutschistan ein Rückzugsgebiet eingerichtet, wo sich auch ihr Mullah Mohammed Omar aufhalten soll. Die pakistanische Armee wiederum geht derzeit nicht gegen die afghanischen Taliban vor, weil sie hofft, so ihren Einfluss in Afghanistan zu erhalten.

Aus dieser Erkenntnis muss der Westen weit reichende Konsequenzen ziehen. Zwar muss er die Taliban auch militärisch in Schach halten. Aber ohne den Aufbau von Regierungsstrukturen auf lokaler Ebene geht es nicht. Experten wie der Brite Rory Stewart oder der Pakistaner Ahmed Rashid, die mit historischen Argumenten auf einen "Minimalstaat" setzen, irren sich grundlegend. Man kann die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit Mitteln des 19. Jahrhunderts lösen.

Afghanistan braucht staatliche Strukturen, in denen sich die Menschen vor Warlords und Taliban sicher fühlen. Außerdem muss der Westen endlich stärker mit der afghanischen und pakistanischen Bevölkerung in Kontakt treten, weil sonst die Taliban die Kontrolle über deren Weltbild behalten. Dass der massive Betrug bei den Wahlen in Afghanistan jetzt offiziell anerkannt wurde, ist deshalb ein erster Schritt in die richtige Richtung. Dem müssen aber viele weitere folgen. Afghanistan wird auf seinem Weg zu einem funktionsfähigen Staat noch lange auf Unterstützung angewiesen sein. Lässt man es damit allein, werden dort bald wieder die Taliban regieren.

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