Debatte SPD-Parteitag in Dresden: Partei ohne Volk

Ihre unverbindliche Zerknirschtheit wird der Sozialdemokratie nichts bringen. Sie müssen plausibel erklären können, warum sie diese vielen Fehler gemacht haben.

Die SPD rückt in der Opposition sanft nach links. Auf dem Parteitag in Dresden hat sie milde ihre Fehler als Regierungspartei kritisiert, ohne sich selbst dabei wehzutun. Sie steuert einen mittleren Kurs und ist mal wieder ziemlich vernünftig. Aber das reicht nicht.

Das Desaster für die SPD in den letzten elf Jahren war nicht nur Hartz IV. Es war auch nicht die Rente mit 67, für die es ja auch gute Gründe gibt. Es waren nicht die 1-Euro-Jobs und nicht die gezielte Ausweitung des Niedriglohnsektors. Es war nicht die rot-grüne Steuerreform, die Streichung der Körperschaftsteuer, die Konzerne bevorteilt, die Senkung des Spitzensteuersatzes, die Vermögenden nutzt, die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne der Konzerne, die dem internationalen Kapital zugutekommt. Es war auch nicht die Deregulierung der hiesigen Finanzmärkte und nicht die blanke Verachtung, mit der Gerhard Schröder zeitweise auf die Gewerkschaften herabschaute. Es war auch nicht die Hermetik der SPD-Spitze, die taub für jede Kritik an ihrer Politik war. Es war all dies zusammen.

Angesichts dessen ist die freundliche Selbstkritik der Sozialdemokraten bislang nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zur rechten Zeit. Was fehlt, ist eine Analyse ohne Schonbezüge, warum die Sozialdemokraten in den Kernbereichen, der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, so katastrophal versagt haben. Dabei geht es nicht darum, sich über verschüttete Milch zu grämen, eine Übung, die die SPD-Linke virtuos beherrscht. Die Sozialdemokraten werden das zielsicher zerstörte Vertrauen ihrer Klientel nur wiedergewinnen, wenn sie ihre Fehler präzise erklären können. Die unverbindliche Zerknirschung, die auf dem Parteitag in Dresden dominierte, reicht nicht.

Sigmar Gabriel hat in Dresden dazu ein paar Bemerkungen gemacht. Die SPD habe zu sehr auf die Mitte geschielt und sich dabei "schleichend an die Deutungen der Neoliberalen angepasst". Genau so war es. Aber warum? Die SPD kann sich noch nicht mal selbst plausibel erklären, warum ihr innerer Kompass derart versagt hat. Solange das so ist, wird sie nicht wieder regieren. Auch gutgläubige Wähler wollen wissen, warum, bitte schön, sich dieses Desaster beim nächsten Mal nicht wiederholen wird.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es wäre nichts gewonnen, wenn die SPD nun einfach umschwenkte. Jetzt in der Opposition, wenn man ohnehin nicht mehr entscheiden kann. Die Abschaffung von Hartz IV und der Rente mit 67 sowie den Rückzug aus Afghanistan zu fordern, wäre billig. Die SPD braucht keine wohlfeile Selbstdistanzierung, sondern eine scharfe Selbstanalyse.

Die zweite Aufgabe, die die SPD in der Opposition bewältigen muss, ist noch schwieriger. Sie muss akzeptieren, dass sie ihre beste Zeit hinter sich hat. Ein Mantra ist eine Beschwörungsformel, die gegen Dämonen schützen soll. Das Mantra der SPD-Spitze lautet: "Wir sind die große Volkspartei der linken Mitte." Mit dieser Formel versucht man, sich die unschöne Wahrheit vom Leib zu halten, dass sie nie mehr sein wird, was sie zu Willy Brandts Zeiten war. Sie wird, auf absehbare Zeit, kein schlagkräftiges, der Zukunft zugewandtes Bündnis zwischen Unter- und Mittelschicht mehr schmieden.

Die urbanen Mittelschichten sind schon vor Langem zu den Grünen abwandert, die Arbeitslosen und Marginalisierten haben Schröder&Co tatkräftig der Linkspartei in die Arme getrieben. Nichts spricht dafür, dass diese Prozesse umkehrbar sind. Überdies ist Deutschland kein Sonderfall. Fast alle sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa haben es mit ökologisch-bürgerlichen und linkspopulistischen Abspaltungen zu tun, und fast alle sind zu "20 Prozent plus x"-Parteien geschrumpft.

Die SPD ist nicht mehr die große Volkspartei, die sich mit kleinen Klientelparteien verbündet. Sie muss, bei Strafe ihres Untergangs, eine neue, flexiblere Rolle finden - als Organisator von Koalitionen auf Augenhöhe, als Klammer zwischen neobürgerlichen Grünen und zur Linkspartei neigenden Arbeitslosen und Prekariat. Sie muss sich daran gewöhnen, auch mal grüne Kandidaten, die ein Direktmandat oder einen Oberbürgermeisterposten holen können, zu unterstützen.

In Stuttgart zum Beispiel schickte die SPD, zum Verdruss der Grünen, eine chancenlose Kandidatin ins Rennen, statt den Grünen-Chef Cem Özdemir zu unterstützen. Für eine große Volkspartei ist es in der Tat undenkbar, einer Klientelpartei so weit entgegenzukommen. Aber die SPD ist im Süden der Republik keine Volkspartei mehr - auch keine im Wartestand.

Statt der Nostalgie: Erfahrung

Ihre neue Rolle kann sich die SPD nicht einfach verordnen. Sie muss praktische Erfahrungen damit sammeln. Daher bedeuten das Saarland und Thüringen für die Sozialdemokratie zwei so herbe Niederlagen. In Thüringen hätte die SPD in einer rot-rot-grünen Konstellation mit einem unabhängigen Ministerpräsidenten lernen können, dass sie von unerprobten Bündnissen profitiert. In Thüringen hat die SPD diese Chance ausgeschlagen. Im Saarland hat sie alles richtig gemacht - und alles verloren.

Dort hat die SPD kurz vor der Wahl ihre eigenen Wähler gedrängt, taktisch für die Grünen zu votieren, um ihnen über die Fünfprozenthürde zu helfen und so die erste rot-rot-grüne Regierung zu ermöglichen. Die saarländischen Grünen haben diese tatkräftige Unterstützung bekanntlich benutzt, um die CDU im Amt zu halten und Jamaika zu installieren. Es ist fast tragisch, dass die SPD, ausgerechnet, wenn sie mal was riskiert, so bestraft wird. Denn nichts braucht die Partei mehr als die Erfahrung, dass Experimente mit Grünen und Linkspartei ihr zumindest nicht schaden. Nur wenn sie dies konkret lernt, wird sie ihre Rolle als mittelgroße, dafür nach vielen Seiten anschlussfähige Organisation als Chance begreifen.

Die Leidensgeschichte der SPD ist noch nicht zu Ende. Es kann noch schlimmer kommen. Der Worst Case wäre eine Jamaika-Koalition in NRW. Danach wäre Schwarz-Grün auch im Bund nur eine Zeitfrage. Damit wäre der Weg für ein modernes, bürgerliches Lager mit einer strukturellen Mehrheit geöffnet - und die SPD machtpolitisch auf Jahre hinaus kaltgestellt. Wahrscheinlich noch länger.

STEFAN REINECKE

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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