„Spanien ist uns eine Warnung“

DEMOKRATIE Die Länder des Südens brauchen mehr Bürgerbeteiligung, um die größten Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, meint der Brasilianer Raul Pont

■ ehemaliger Bürgermeister von Porto Alegre, sitzt für die Arbeiterpartei (PT) im Landesparlament von Rio Grande do Sul. Als Vertreter der Strömung „Sozialistische Demokratie“ ist er im Vorstand der Partei.

INTERVIEW GERHARD DILGER

taz: Herr Pont, Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef regiert jetzt seit fünf Monaten. Worin unterscheidet sie sich von ihrem Vorgänger Lula?

Raul Pont: Dilma hat einen eher technischen Blick. Und sie ist diskreter, reservierter als der spontane, sehr informelle Lula. Aber sie ist ganz auf seiner Linie. Lula hatte sie deshalb ja als seine Nachfolgerin vorgeschlagen.

Was ist denn ihr bislang größter politischer Erfolg?

Bei ihrem Amtsantritt war sie mit übertriebenen Staatsausgaben konfrontiert, dazu kam die instabile Weltwirtschaftslage. Sie hat den inflationären Druck resolut bekämpft. Neben der Erhöhung der Zinsen durch die Zentralbank setzte sie dabei auch Maßnahmen durch, die den Finanzmärkten nicht so gefallen haben – etwa Abgaben auf kurzfristige Kapitalzuflüsse aus dem Ausland. Nach den kritischeren Übergangsmonaten sind wir jetzt wieder in einer besseren Lage, die Arbeitslosigkeit sinkt.

Im Parlament verfügt Dilma Rousseff über eine komfortable Mehrheit. Doch jetzt hat es ihr beim Regenwaldschutz eine bittere Niederlage beschert. Wie kommt das?

In Brasilien klaffen die Ergebnisse von Präsidenten- und Parlamentswahlen extrem auseinander. Dilma und ihr Vorgänger Lula bekamen beide im ersten Wahlgang jeweils gut dreimal so viele Stimmen, wie die Arbeiterpartei (PT) auf sich versammeln konnte. Das ist für viele Europäer kaum zu verstehen. Die Präsidentin ist darum aber gezwungen, mit enorm heterogenen Kräften zusammenzuarbeiten.

Brasiliens Wirtschaft setzt immer noch sehr stark auf Exporte von Agrarprodukten oder unverarbeiteten Metallen. Ist das gut?

Darin sehe ich kein Problem, wir haben ja große Agrarflächen und sind von solchen Exporten weniger abhängig als etwa Argentinien. Aber in Wissenschaft und Forschung haben wir seit je einen großen Rückstand, da sind große Investitionen nötig. Gut läuft es im Ölsektor: Petrobras lässt immer mehr Geräte in Brasilien bauen, bis hin zu großen Plattformen und Schiffen. Auch bei der Fördertechnologie geht es voran, da wird Know-how für die Zukunft geschaffen.

Erdölförderung unter dem Meeresgrund, Großprojekte in Amazonien – ist das nachhaltig?

Beim Öl geht die Regierung ja gerade nicht nach kurzfristigen Erwägungen vor. Wir wollen diese großen Reserven behutsam und umweltverträglich fördern und gleichzeitig neue, sauberere Energiequellen im ganzen Land erschließen. Aber Brasilien kann nicht auf die Wasserkraft verzichten.

Die Urwaldzerstörung nimmt zu.

Ja, vor allem in Mato Grosso gibt es große Unternehmen, die kriminell vorgehen, um Soja und Fleisch zu produzieren. Im Kapitalismus läuft es oft anders, als es die Regierung gerne hätte. Das Risiko einer unguten internationalen Arbeitsteilung ist uns bewusst.

Was setzt die Regierung dagegen?

Die Integration Südamerikas. Unsere Volkswirtschaften sollen sich ergänzen. Bald soll die Aufnahme Venezuelas in die Wirtschaftsunion Mercosur abgeschlossen sein. Bolivien oder Paraguay werden nicht mehr durch das schiere Gewicht Brasiliens erdrückt.

Unter Lula wurden die Verbrechen des Militärregimes von 1964 bis 1985 noch nicht richtig aufgearbeitet. Wird das jetzt anders werden?

Die Militärs vor Gericht zu stellen, die während dieser Jahre für Morde, Folter oder Entführungen verantwortlich waren, das scheint noch immer unvorstellbar. Die geplante Wahrheitskommission dürfte weit hinter den Vorstellungen von Menschenrechtlern zurückbleiben. In Argentinien oder Uruguay ist man da viel weiter – auch wegen des Drucks der Medien und der Mehrheit im Parlament.

Brasiliens Arbeiterpartei (PT) scheint, je länger sie an der Macht ist, der revolutionäre Elan auszugehen, es dominiert eine Politik der kleinen Schritte. Wird sie damit den Sozialdemokraten in Europa damit nicht immer ähnlicher?

Es stimmt: Einen wirklichen Sozialstaat werden wir in Brasilien kaum bekommen, ohne die Privilegien der Reichen anzutasten. Und ja, ich glaube: Wenn sich meine Partei mit der brutalen Kluft zwischen Arm und Reich abfindet, dann werden neue Kräfte an ihre Stelle treten.

Worin sehen Sie das derzeit wichtigste Projekt Ihrer Partei?

In einer Reform des Wahlrechts. Unsere Wahlkämpfe werden zu sehr von Wirtschaftsinteressen dominiert, die Verhältnisse im Parlament müssen viel stärker dem Wählerwillen entsprechen. Wir wollen eine öffentliche Finanzierung der Wahlkämpfe und weniger, aber dafür stärkere Parteien.

Sie haben in Ihrer Heimatstadt Porto Alegre den sogenannten Bürgerhaushalt mitbegründet. Greift die Regierung solche Ansätze partizipativer Demokratie auf?

Viel zu wenig. Es gab zwar unter Lula nationale Konferenzen zu Sicherheit oder Mediendemokratisierung, das war neu. Aber bis zu echter Bürgerbeteiligung ist es noch weit. Dabei würde der fast imperiale Charakter unseres Präsidialsystems wagemutige Schritte zu direkter Demokratie erleichtern.

Inwiefern?

Man könnte Teile des Haushalts direkt von der Bevölkerung diskutieren lassen, mit Hilfe der politisch Aktiven und der sozialen Bewegungen. Auf großen Versammlungen könnte man über Prioritäten bei staatlichen Investitionen und Dienstleistungen beraten. Das würde die Regierung stärken!

Woran scheitert das?

Wir haben weder die Mehrheit der Partei noch die Regierung davon überzeugen können. Stattdessen paktiert man mit Parteien, die oft unsere Gegner sind, und Abgeordnete bekommen direkt Haushaltsmittel, das ist pervers! Dabei zeigen die demokratischen Bewegungen in Spanien und in Nordafrika, auch in manchen südamerikanischen Ländern klar die Grenzen der klassischen repräsentativen Demokratie auf, die oft bürokratisiert, teuer und korrupt ist. Die Jugend in Spanien lehnt ja nicht nur die rechten Parteien ab, sondern auch die Sozialdemokratie. Das sollte uns eine Warnung sein.