Debatte Reform der Pflegeversicherung: Ressource Alter

Ob in Japan oder Frankreich: In einigen Ländern werden betagte Menschen bereits als Bereicherung wahrgenommen. In Deutschland gelten sie vielfach eher als Problem.

Rentner: In Deutschland eher eine Belastung. Bild: dapd

Neulich war eine japanische Delegation zu Gast in Berlin. Sie hatte einen Speisesaal in einem Altenheim fotografiert, an den Tischen zwei Dutzend 90- bis 100-jährige saßen. Die einen bei der Vorspeise, die anderen beim Hauptgericht, ein paar bereits beim Dessert.

Sie alle hätten die Mahlzeit gleichzeitig begonnen, erläuterte der japanische Delegierte, aber jeder esse eben nach seinem Tempo, dank der - jetzt zeigte er auf die vielen anderen alten Menschen auf dem Bild - ehrenamtlichen Betreuer: 60- bis 70-jährige Rentner, die, auf der Flucht vor der Langeweile ihres Alleinseins, nun ohne Zeit- und Kostendruck die Hochbetagten fütterten.

Die Botschaften des Fotos aus Japan sind so schlicht wie wahr: Nein, Alter per se ist keine Krankheit. Ja, Demenz gehört ab einem bestimmten Punkt im Leben zur Normalität des Seins. Und, richtig: Würde kostet nicht unbedingt enorm viel Geld, wohl aber Zeit.

Bezeichnenderweise bleiben diese Erkenntnisse hierzulande von der Politik unerwähnt in der sich seit einem Jahr hinquälenden Debatte um eine Reform der Pflegeversicherung.

Würde - keine spleenerte Idee

Angemessen wäre festzustellen, dass es bei dieser Reform um einen neuen Gesellschaftsvertrag gehen müsste. Einen Vertrag, der sich auseinandersetzen müsste mit der Wertorientierung, aber auch der sozialen Produktivität im Land. Selbstbestimmung im Alter, Teilhabe, Respekt, und, um noch ein großes Wort zu bemühen: Würde - sie sind eben keine spleenerten Ideen irgendwelcher sabbernden, geistig verwirrten Alten. Sondern sozialrechtliche Ansprüche, verankert unter anderem in der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland übrigens unterzeichnet hat.

Angemessen wäre auch, die Frage zu wagen, ob eine unaufhaltsam alternde Nation Pflege möglicherweise doch als gesellschaftliches Ressourcenthema begreifen will. Oder ob sie sich um die Antwort drücken und Pflege lieber zu privatisieren versucht - auf Kosten von Angehörigen und Familienarrangements, die an ihre Grenzen stoßen: Weil alte Eltern und erwachsene Kinder heutzutage nur noch selten am selben Ort zu leben. Weil Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, die bislang die Gebrechlichen pflegten, daheim, still und kostendämpfend, hierfür seltener zur Verfügung stehen - Stichworte Emanzipation, Globalisierung, Fachkräftemangel.

Anstatt diese Debatte inhaltlich zu führen, wird in der schwarz-gelben Koalition gestritten: um Beitragssatzpunkte und Finanzierungsideologien. Um Zahlen: 4 Millionen Pflegebedürftige bis 2050? Oder doch 5 Millionen? Um die Frage, welcher der untereinander zerstrittenen Koalitionspartner wem etwas abgetrotzt, wahlweise die Show gestohlen hat. Und darum, wie man den Menschen - also Wählern! - suggerieren könnte, es gehe um ihr Wohl, und dabei bloß versucht, die drohenden Kosten gering zu halten.

Anschließend wird mit erhobenem Zeigefinger daran erinnert: dass die Pflegeversicherung ohnehin immer nur eine Teilkaskoversicherung gewesen sei. Weswegen jeder Einzelne für sich selbst privat vorsorgen müsse.

Die neuen Alten als Ressource

Mehr fällt der schwarz-gelben Regierung zum Thema Pflege nicht ein, und mehr wird ihr dazu nicht einfallen. Ein echtes Reformkonzept setzte ein gewisses Interesse an Versorgungsfragen und Empathie voraus. Man darf in diesem Zusammenhang keine allzu hohen Erwartungen stellen an einen Gesundheitsminister, dessen erschütternste Lebenserfahrung die Wahrscheinlichkeit sein dürfte, in zwei Jahren nicht mehr zu regieren.

Dreiviertel der Deutschen möchten Umfragen zufolge zu Hause altern und gepflegt werden. Ein Wunsch, der im Widerspruch steht zu der steigenden Zahl an Heimunterbringungen aufgrund fehlender Mittel für ambulante Hilfen. Gleichzeitig hat jeder Zweite über 50 Lust, im Ruhestand ehrenamtlich zu arbeiten. Und: Fast jeder Fünfte muss sein Arbeitsleben vorzeitig aus gesundheitlichen Gründen beenden, möchte deswegen aber bitte nicht bis ans Lebensende zum Nichtstun verpflichtet sein. Das heißt selbstverständlich nicht, dass diese Menschen automatisch bereit wären, belastende Pflegearbeiten zu übernehmen.

Trotzdem stützen diese Zahlen, was Sozialexperten seit Jahren prognostizieren: Dass selbst organisierte Potentiale der älteren Generation die größte nachwachsende Ressource des 21. Jahrhunderts sind. Und dass sie unverzichtbar sind beim gesellschaftlichen Umbau hin zu inklusiven Lebensformen, in denen Demente nicht länger als Problem, sondern Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden.

Zum Beispiel: Paris

Nachbarschaften müssen also gestärkt, Stadtviertel alterszu barrierefreien Quartieren umgebaut, alternative selbstständige Wohnformen gefördert werden. Und vor allem braucht es Menschen, die ausreichend politische wie finanzielle Unterstützung finden, um eine gesunde Balance zu finden, damit persönlicher Einsatz nicht zur Selbstausbeutung gerät.

Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass bessere Pflege bei mehr Lebensqualität zuweilen unaufwendig zu organisieren ist. So gibt es in Frankreich das Modell der Mehrgenerationen-WGs, in denen Studierende unter einem Dach leben mit alten, alleinstehenden Menschen, deren Kinder wiederum ausgezogen oder Ehepartner verstorben sind. Es ist eine Wohnform, von der beide Seiten profitieren: die Jungen, weil sie günstig wohnen, und die Alten, weil sie ihre Selbstständigkeit bewahren und sicher sein können, dass jemand für sie im Notfall den Krankenwagen ruft.

Die 31-jährige französische Sängerin Isabelle Geffroy, bekannt unter dem Künstlernamen "Zaz", erklärte neulich in einem Interview, weshalb sie so gern mit einer 90-jährigen mitten in Paris wohnt: weil erst der Bruch mit traditionellen Familienrollen ein Zusammenleben auf Augenhöhe ermöglicht.

Gesellschaftliche Umbrüche, und das gilt auch für einen veränderten Umgang mit Pflegebedürftigen, sind selten von Regierenden verordnet worden. Sondern passiert. Das soll keineswegs heißen, dass Politik damit entpflichtet wäre, Reformen in Angriff zu nehmen: Zivilgesellschaftliches Engagement funktioniert nie anstelle sozialstaatlicher Hilfen, sondern immer nur mit ihnen.

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Heike Haarhoff beschäftigt sich mit Gesundheitspolitik und Medizinthemen. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kinderheim bei Paris ab 1989 Studium der Journalistik und Politikwissenschaften an den Universitäten Dortmund und Marseille, Volontariat beim Hellweger Anzeiger in Unna. Praktika bei dpa, AFP, Westfälische Rundschau, Neue Rhein Zeitung, Lyon Figaro, Radio Monte Carlo, Midi Libre. Bei der taz ab 1995 Redakteurin für Stadtentwicklung in Hamburg, 1998 Landeskorrespondentin für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und von 1999 bis 2010 politische Reporterin. Rechercheaufenthalte in Chile (IJP) und den USA (John McCloy Fellowship), als Stipendiatin der Fazit-Stiftung neun Monate Schülerin der Fondation Journalistes en Europe (Paris). Ausgezeichnet mit dem Journalistenpreis der Bundesarchitektenkammer (2001), dem Frans-Vink-Preis für Journalismus in Europa (2002) und dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse (2013). Derzeit Teilnehmerin am Journalistenkolleg "Tauchgänge in die Wissenschaft" der Robert Bosch Stiftung und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

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