Essay zur Zuwanderung aus Osteuropa: Die Ökonomie der Armut

Von „Einwanderung in die Sozialsysteme“ kann keine Rede sein. Die Überlebensstrategien orientieren sich schlicht am realen Dauerelend.

Das „Problemhaus“ genannte Haus in Duisburg. Hier wohnen Zuwanderer aus Osteuropa Bild: dpa

Ja, wir wollen Zuwanderung. Nein, wir haben nichts gegen Ausländer und auch nichts gegen Roma, die schließlich Opfer eines Völkermords waren und mancherorts bis heute verfolgt werden. Wir brauchen Fachkräfte, und deren Herkunft ist uns egal. Was wir dagegen nicht wollen, ist eine Einwanderung in unsere Sozialsysteme.

Es ist ein breiter Konsens, der sich nach einer Reihe von Provokationen aus der CSU herausgebildet hat. Bloß: „Einwanderung in die Sozialsysteme“ ist schon an sich ein tendenziöses Schema, das die wirklichen Verhältnisse schlecht beschreibt.

Niemand kommt nach Deutschland, um sich in eine ominöse soziale Hängematte zu legen. Es kann auch niemand, selbst unter rumänischen Roma nicht, Berlin-Neukölln, Dortmund-Nord oder Duisburg-Marxloh mit dem Schlaraffenland verwechseln, das die Armutszuwanderer angeblich so anzieht. Die Motive für die Zuwanderung sind andere. Hätte jemand genauer hingesehen, hätte die Debatte einen anderen Verlauf genommen.

Die erste größere Gruppe derer, von denen nun ständig die Rede ist, wurde im Dortmunder Norden gesichtet. Anfangs waren es Frauen aus Stolipinowo, einem Elendsviertel im bulgarischen Plowdiw, die sich prostituierten. In Stolipinowo wird vorwiegend Türkisch gesprochen, in Dortmund-Nord auch – das traf sich gut.

Puzzleartige Existenz

Später holten die Frauen ihre Familien nach; die Männer gingen auf den sogenannten Arbeiterstrich oder begannen, Metall zu sammeln. Dass sie Anspruch auf Kindergeld hatten, wussten die Zuwanderer gar nicht. Folglich bekamen sie auch keines. Erst allmählich hat sich herumgesprochen, dass es Ansprüche auf Sozialleistungen gibt.

Wer in einem südosteuropäischen Elendsviertel lebt und dort großgeworden ist, verhält sich so, wie es Slumbewohner überall aus guten Gründen tun: Er setzt sich seine Existenz puzzleartig zusammen. Man verrichtet Gelegenheitsjobs, sammelt Eisen oder Flaschen, treibt ein wenig Handel, beantragt Transferleistungen, wenn es so etwas gibt. Reicht das nicht, kommen Betteln, Prostitution und kleine Diebereien hinzu.

Daniel Suarez hat in seinen Science-Fiction-Romanen prophezeit, was heute alle wissen: Die Überwachung im Netz ist total. Der Autor und Hacker hat sich ein neues Internet ausgedacht. Wie das aussieht, erklärt er im Interview in der taz.am wochenende vom 18./19. Januar 2014 . Darin außerdem: Eine Hommage an den 100. Geburtstag von Arno Schmidt, eine Geschichte von einem traumatisierten Soldaten, der gegen die Geister des Krieges kämpft und eine Reportage über die Tram Linie 1 in Jerusalem, die die gespaltene Stadt dennoch verbindet. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Das Grundgesetz des Überlebens im Slum lautet: Nie alles auf eine Karte setzen! Ein Arbeitsplatz, eine Lohnersatzleistung – das sind flüchtige Versprechen. Man nimmt sie mit, wenn man kann. Aber es wäre zu gefährlich, deswegen den Wohnort zu wechseln. Der Job oder die Leistung sind schnell weg, und dann steht man wieder vor dem Nichts. Es gilt: Nie das Netzwerk aufgeben, nie sich vereinzeln lassen! Wenn es ernst wird, hilft kein Staat und kein Arbeitgeber, nur die Familie tut es und vielleicht die engsten Freunde.

Die Logik der Armut wird nicht verstanden, auch in Osteuropa nicht. Überall hört man dort immer wieder die traurige Geschichte von dem begabten Roma-Jungen, dem wir alle helfen wollten, dem wir schließlich sogar unter erheblichen Mühen einen Arbeitsplatz beschafft haben – und der dann schon eine Woche später unentschuldigt der Arbeit fernblieb, weil er dem Onkel bei der Reparatur seiner Hütte zur Hand gehen musste. Die Interpretation der Geschichte ist dann meistens, dass sich da das „Ewigzigeunerische“ durchgeschlagen habe. Dabei hat der Junge in der Geschichte nur vernünftig gehandelt. Der Job kann schnell wieder weg sein. Der Onkel bleibt.

Man nennt das die Ökonomie der Armut. Sie ist nicht weniger vernünftig als unsere Ökonomie des Sparens und Investierens; nur ist sie eben den Bedingungen des Dauerelends angepasst. Deshalb hat es auch keinen Sinn, sich den Bewohnern von Elendsvierteln in volkserzieherischer Absicht zu nähern. Sie wissen besser als wir, was ihnen nützt.

Bildung ist nicht der Schlüssel

Bildung, Bildung, Bildung, pflegen wohlmeinende Politiker zu sagen, wenn sie einen Ausweg aus der Misere weisen sollen. Bildung sei der Schlüssel, heißt es in den einschlägigen Papieren der EU-Kommission, des Europaparlaments und des Europarats. An der Botschaft ist natürlich nichts auszusetzen – außer, dass sie nicht stimmt.

Bildung ist nicht der Schlüssel, oder wenigstens nicht dort, wo die Armutszuwanderer herkommen. Überall in Ost- und Südosteuropa ist der Zusammenhang zwischen Bildung und gutem Leben zerrissen, und zwar für alle, nicht nur für Roma. Eine ganze Generation hat die Erfahrung gemacht, dass Bildung es eben nicht bringt. Sie haben es an ihren Eltern gesehen. Der Vater war Ingenieur, die Mutter Russischlehrerin. Heute geht die Mutter putzen, und der Vater säuft – aber der Nachbarsjunge, der die Schule abgebrochen hat, um finsteren Geschäften nachzugehen, fährt heute mit einem Porsche Cayenne durchs Viertel.

Erst wenn die Verhältnisse sich ändern, ändert sich auch die Einstellung zur Bildung. Eine Studie der Soros-Stiftung unter Roma in Italien und Spanien auf der einen und in Rumänien und Bulgarien auf der anderen Seite hat gezeigt, dass die Bereitschaft, die Kinder zur Schule zu schicken, in den Aufnahmeländern deutlich höher ist als in den Herkunftsländern, und zwar bei denselben Familien.

It’s the economy, stupid: Wo Bildung etwas bringt, wird sie prompt nachgefragt. Manche Armutszuwanderer stellen mit ihrem Integrationsfleiß und ihrem Bildungshunger die Behörden in den Aufnahmeländern schon so vor Probleme.

Für die weitere Debatte über Armutszuwanderung, wenn sie denn ehrlich wäre und nicht bloß Instinkte wach kitzeln soll, gilt zweierlei. Erstens: Du sollst die Armutswanderung nicht verhindern wollen. Zweitens: Wer der Misere abhelfen will, muss die Grundbedürfnisse der Betroffenen erfüllen, und zwar bedingungslos und ohne volkspädagogische Absicht.

Wer meint, er könne die Bewohner südosteuropäischer Elendsviertel durch Versagung von Sozialleistungen von der Emigration abhalten, kriegt exakt das, was er vermeiden möchte: Slums, Probleme, Kriminalität. Wer nicht in eine Sozialwohnung darf, baut sich eben eine Papphütte am Bahndamm, und wer kein Hartz IV bekommt, muss betteln oder stehlen.

So schlecht, dass die Armen lieber zu Hause bleiben, können wir die Bedingungen gar nicht gestalten. Auch das berühmte „Schließen der Grenzen“ wird nicht funktionieren. Zwischen Rumänien und Deutschland liegt kein Mittelmeer, in dem man ertrinken kann. Wer die Grenzen schließt, kriegt eine Schlepperindustrie, und wer den Zuwanderern das Freizügigkeitsrecht entzieht, bekommt die gleiche Zahl an Illegalen. Die forcierte Abschiebung von Roma aus dem Kosovo seit 2008 hat es gezeigt. Alle die lange hier gelebt haben, hier ihre Verwandten und Freunde haben, sind wieder zurückgekommen. So oder so.

Menschenwürdige Behandlung

Wer dagegen will, dass sich in Deutschland keine Slumverhältnisse breitmachen, muss für die bessere Alternative erst einmal die Voraussetzungen schaffen. Etwas verlangen kann man nur von einem Menschen, der etwas zu verlieren hat. Eine nach unseren Maßstäben vernünftige Ökonomie seines Lebens kann nur entwickeln, wer sicher sein darf, dass es morgen noch genug zu essen gibt, dass er nicht nächste Woche auf der Straße steht oder festgenommen und irgendwo hingeflogen wird.

Das heißt nicht, dass Deutschland „das Sozialamt der ganzen Welt“ werden muss. Es muss aber auch in seinem eigenen Interesse die Menschen, die hier leben, menschenwürdig behandeln. Dass dann „alle kommen“, ist bloß Propaganda – ebenso wie die Rede von den „ganzen Landstrichen“, die schon „entvölkert“ seien, weil alle jetzt im Ruhrgebiet leben würden. Die Ärmsten der Armen, die in Rumänien überwiegend auf dem Lande leben, migrieren so gut wie überhaupt nicht.

Glauben wir weiterhin, die Zuwanderer kämen wegen unserer tollen Willkommenskultur, weil wir netter zu ihnen wären als alle die angeblich finsteren Osteuropäer, und bilden wir uns ein, wir müssten ihnen zeigen, wie man die Kühe melkt, so werden wir an ihnen scheitern.

Irgendwann wird es dann wieder heißen: Sie sind nicht integrierbar. Wir haben ja alles versucht. Und dann werden wir auch wieder lernen, die Roma zu hassen.

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