Ist Putin gut für Russland?
Ja

MÄCHTIG Sotschi schillerte, und die Krim ist wieder russisch. Präsident Putin macht sich in Europa unbeliebt, aber sein Volk ist stolz. Oder? Ein Streit unter Russen

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Ewgenija Popowa, 25, arbeitet in Moskau für den russischen Fernsehsender STS

Putin ist ein starker Staatsmann. Ich lebe im Zentrum, in Moskau. Bei uns entwickelt sich vieles weiter, ich lebe gerne hier, alles ist völlig in Ordnung. Ja, einige Regionen hinken in der Entwicklung noch hinterher, man verdient dort wenig Geld. Aber es wird besser werden. Und Korruption? Die gibt es doch überall. Die Länder, die sich als Zentrum der Welt verstehen, sollen sich nicht einmischen in die Angelegenheiten anderer Staaten. Wir sehen ja, was aus der Ukraine geworden ist. Ich bin sehr froh über die Situation auf der Krim. Es macht mich glücklich, die Freude der einfachen Menschen zu sehen. Die Reaktion der Politiker weltweit ist deprimierend, aber was soll’s. Unser Präsident hat alles richtig gemacht. Die Menschen auf der Krim sind zufrieden: Bald bekommen sie höhere Renten und die Perle Krim wird Finanzspritzen erhalten, wie auch Sotschi sie bekommen hat. Ich glaube daran und warte.

Timur Galimow, 22, kommt aus Jekaterinburg am Ural. Er studiert dort Geodäsie

Ich halte Putin nicht für einen Beschützer der russischen Welt, aber er hat Frieden in Tschetschenien durchgesetzt und separatistische Bewegungen erstickt. Und Frieden ist besser als Krieg. In den letzten zwölf Jahren, also seit seiner Amtszeit, haben sich die Lebensverhältnisse in Russland deutlich verbessert – auch wenn die Preise gestiegen sind. Aber ich war gegen die Annexion der Krim. Ja, es gab ein Referendum, und wahrscheinlich wollten die meisten Menschen wirklich zurück zu Russland. Ich halte es aber für falsch, die Grenzen eines vielleicht instabilen, aber doch souveränen Staates zu verletzten. Wenn Putin sich jetzt zum Zaren aufschwingt, werde ich bei den nächsten Wahlen nicht für ihn stimmen.

Tatjana Arischkewitsch, 60, Rentnerin, früher im Außenhandel, lebt in Moskau

Wladimir Wladimirowitsch Putin ist der Retter Russlands! Ohne ihn hätten wir unser gelobtes Land, so wie es früher einmal war, verloren. Der Herrgott hat ihn mit der Mission der Auferstehung unseres Landes beauftragt. Wir orthodoxen Christen beten für ihn. Er ist ein weiser Politiker und führt das Land trotz aller Widerstände und Feinde auf den richtigen Weg. Putin ist nicht nur ein würdiger Politiker, er ist auch ein würdiger Mensch, der Verehrung verdient. Als gläubiger Christ respektiert er religiöse Überzeugungen und unterstützt stark die russisch-orthodoxe Kirche. Die Situation auf der Krim hat der ganzen Welt gezeigt, dass Russland sich nicht mehr auf den Knien befindet und einen würdigen Platz in der Welt sucht. Zum ersten Mal seit 20 Jahren wurde ein ehemals russisches Gebiet angegliedert, endlich waltet historische Gerechtigkeit. Die Annexion der Krim war ein erster Schritt in diese Richtung.

Wladimir Truschew, 25, arbeitet bei der internationalen HSBC-Bank in Moskau

An Putins Stelle könnte ich es auch nicht besser machen. In der Krimfrage unterstütze ich ihn voll und ganz. Die Politik Amerikas zielt auf die Kontrolle wichtiger Gebiete des Planeten. Die politischen Handlungen der USA haben noch nie zu etwas Gutem geführt. Ich bin für Putin. Wenn der Zar stirbt, beginnt das Chaos. Jeder wird versuchen, ein Stückchen vom Kuchen zu kriegen. Der Nachteil Putins ist, dass er alleine ist. Je stärker Putin, desto schwächer ist das Land ohne ihn. Wenn Putin in nächster Zeit keinen würdigen Nachfolger findet, muss er die Macht umverteilen. Noch ist Putin aber erst knappe sechzig Jahre alt, zehn kann er noch locker regieren.

Nein

Nikolaj Plotnikov, 47, lehrt Russische Philosophie an der Universität Bochum

Im Jahr 2000 ist Putin mit dem Spruch an die Macht gekommen, er wolle eine „Diktatur des Gesetzes“ schaffen. Das wurde damals als Absichtserklärung verstanden, mehr Rechtsstaatlichkeit in die turbulenten Entwicklungen Russlands zu bringen. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Spätestens seit 2012, dem Beginn seiner dritten Amtszeit, die mit einer Vergewaltigung der russischen Verfassung durchgeboxt wurde, ist klar: Es wurde eine Diktatur installiert, die das Gesetz nur als Herrschaftsinstrument nutzt, um die Interessen des an die Macht gekommenen Clans durchzusetzen. Putins Diktatur hat alle Institutionen demokratischer Partizipation – Parlament, Parteien, Wahlen – zu einem bloßen Schein verkommen lassen. Sie erlässt Gesetze, die Repressionen gegen Oppositionelle und Andersdenkende legitimieren. Und jetzt sichert sie ihre Macht auch noch dadurch, dass sie militärisch gegen die Nachbarn Russlands vorgeht. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass in der Dynamik der globalisierten Welt auch die Halbwertszeit solcher Diktaturen rapide abnimmt.

Irina Sherbakova, 64, ist Historikerin. Sie lebt in Deutschland und Russland

Russland ist gerade gespalten. Ich gehöre zu dem Teil, der glaubt, dass die heutige Politik uns, womöglich auch unseren Kindern die Hoffnung nimmt, in einem demokratischen, freien Russland zu leben, ein Teil des freien Europas zu werden. Vor fast 25 Jahren ist hier in Berlin die Mauer gefallen, aber in Wirklichkeit nicht nur hier. Jetzt sehe ich eine deutliche Gefahr, dass eine neue Mauer entsteht, um Russland herum, dass das Land sich nach Jahrzehnten wieder als eine belagerte, von Feinden umringte Festung sieht.

Lara Völker, 40, arbeitet als Lehrerin in Krasnojarsk, Sibiriens drittgrößter Stadt

Ich als Lehrerin sehe eine soziale und kulturelle Degradierung der Gesellschaft. Die Menschen haben Angst. Die übrige Bevölkerung wird von der Propaganda erdrückt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir von einer Zeitmaschine in die Vergangenheit transportiert werden. Und dann werde ich pessimistisch. Putin ist ein schweres Gewicht an den Beinen des bereits schwachen Russlands.

Ilia Ryvkin, 39, ist taz-Leser aus Berlin. Er hat den sonntaz-Streit per Mail kommentiert

Ich habe mit einigen Freunden und Verwandten gestritten, ja Beziehungen abgebrochen. Es ist furchtbar, wenn intelligente, nette Leute auf einmal beginnen, in einer patriotischen Ekstase zu zappeln und von der Dominanz Russlands in der Welt schwärmen. Eine junge Dame schreibt auf Twitter: „Heute bin ich erfüllt vom Stolz auf meine Heimat! Es ist mir egal geworden, dass ich weder Wohnung noch Arbeit habe! Dafür habe ich ein unglaubliches patriotisches Gefühl! Mein kleines Söhnchen hat gerade zum ersten Mal das Wort ‚Russland‘ ausgesprochen!“ Im Land herrscht Pogromstimmung. Die putinsche Propaganda verkündet, dass sich Russland von den Knien erhebt, tatsächlich aber kriecht die Sowjetunion aus dem Sarg. Ein diffuses Feindbild, „Der Westen“, wird aufgebaut: homosexuell, dekadent, pervers. In den westlichen Medien wird oft die Meinung vertreten, dass in Russland eine böse autokratische Regierung an der Macht ist, unter der ein freundliches Volk leidet. Das ist gut gemeint, aber die Stimmung im Land wird komplett verkannt. Die russische Regierung ist insofern demokratisch, als sie der Stimmung des Volkes entspricht.