Engel mit Hornbrille

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Wie könnte man die ausgedörrten Parteien dazu bringen, etwas zu riskieren?

■ ist freier Autor für Print und Hörfunk und lebt in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über den Geburtstag des Grundgesetzes: „Die Verfassungsprozession“.

Es ist wohl fünfunddreißig Jahre her, da träumte die Kabarettistin Hannelore Kaub, es sei durchs offene Fenster ein bleicher Engel geflogen mit einer großen dunklen Hornbrille. Der sagte: „Küss mich!“, und sie schrie: „Nein!“. Dem Engel beschlug die Brille und er flehte: „Bitte, bitte küss mich. Es ist für die Partei.“ Da habe sie geseufzt, erzählte die Kabarettistin. „Für die Partei, also gut.“ Sie küsste ihn, es knallte und auf dem Bettrand saß ein glitschiger Frosch. Mit Hornbrille. Ein zweites Engelchen mit Mentholzigarette setzte sich neben sie, verzog die Mundwinkel und rief: „So’n Quatsch. Wieder der Glotz mit seiner Froschnummer.“

Ach, der Gabriel

Der Traum der Kabarettistin fiel mir wieder ein, als ich neulich im Bett über das Treffen von Sigmar Gabriel mit den Vorsitzenden der Linkspartei grübelte. Was bezweckte die Veröffentlichung des „Geheimtreffens“? Warnung an die Kanzlerin? Vorabsprachen über Thüringen?

Die feste Größe in meiner Baracken-Astrologie heißt: Sigmar Gabriel würde sehr, sehr gern Kanzler werden 2017. Dann dämmerte ich weg. Aber morgens, beim Zähneputzen hörte ich die Stimme von Hannelore Kaub mit dem Refrain „Ich hab von Peter Glotz geträumt …“

Der Mann fehlt mir. Dieser hypernervöse, hochfahrende Parteiintellektuelle, der als Berliner Wissenschaftssenator und später als Generalsekretär zwischen den Linksalternativen und den Betonköpfen in Partei und Regierung operierte, dem Kanzler zusetzte, der sich von „Umweltidioten“ nicht seine Atompolitik kaputtmachen lassen wollte, den Traditionalisten, die alles nicht wahrhaben wollten: nicht die Krise der Erwerbsgesellschaft, nicht das Ende der Wachstumsphase, nicht die „Neue Soziale Frage“.

Bei den Linksalternativen warb Glotz für die Logik des Machterwerbs, bei den Funktionären der SPD für eine Mittelschichtsversion des „demokratischen Sozialismus“. Er konnte Analyse, Gespür für Notwendigkeiten und Machtoptionen zusammendenken, gepeinigt von der Drohung einer „grünen“, später einer „linken“ Abspaltung.

Solche Politiker waren schon damals selten; heute haben alle drei sozialdemokratischen Parteien keine Planstelle mehr für sie. Aber nicht nur deshalb ist „die Linke“ unfähig, sich über „gemeinsame Inhalte und nicht über Machtoptionen“ zu definieren.

Die Entpolitisierung durch die 80er Jahre, der grassierende Unwille, eine Zukunftsperspektive ohne Wachstum zu denken, die kulturwissenschaftliche Verdünnung der Intelligenzija – all das hat den Drang junger Talente zur Politik rar werden lassen. Vor allem aber ist die Membran zwischen kritischen Intellektuellen, engagierten Wissenschaftlern, Publizistik und den auf Sicht fahrenden Parteien verhornt.

Der Traum von Green Growth

Das Reservoir von Ökonomen, Soziologen, Moralisten, aus dem die SPD schöpfen konnte, ist ausgetrocknet; der Elan der Grünen im Laufbahnparlamentarismus kanalisiert; die sozialistischen Zukunftsbilder der Linkspartei ohne Rechnung. Interessante, auch nur provokative Ideen kommen fast immer von außen – und verpuffen im Medienschaum. Strukturelle Epochenprobleme wie Klima, Finanzdiktatur, Altersgesellschaft finden im „politischen Journalismus“ der kommerziellen Medien auf den ersten Seiten kaum statt und werden bestenfalls ins Feuilleton abgeschoben.

So forscht in Jena ein ganzer Sonderforschungsbereich über die Postwachstumsgesellschaft – aber die entsprechende Enquete im Parlament verlief im Sande. Das „Denkwerk Zukunft“ des wertkonservativen Meinhard Miegel erkundet, wie Gerechtigkeit ohne Wachstum stattfinden kann, während die Hälfte der Grünen immer noch von Green Growth träumt. Die Erbschaftssteuerdebatte wird schlagkräftiger als von der Linkspartei vom Bundesfinanzhof geführt, der die Praxis, Steuern durch Schenkungen zu vermeiden, verfassungswidrig findet. (2010 wurden so 3 Milliarden Euro am Fiskus vorbei vererbt, 2012 waren es schon 36 Milliarden.) Die meisten dieser zukunftsweisenden Themen finden keine kontinuierliche Verfolgung in den „Qualitätsblättern“, deren Titel zunehmend mit Lifestyle-Themen aufmachen, oder, wie gerade letzte Woche, mit einer nichtssagenden Industriestudie über die große „Zufriedenheit der Deutschen“.

Als gäbe es den freien Politiker

Parlament und Presse wenden der Zukunft den Rücken zu – wie soll da aus sozialdemokratischer Braunkohle, Schimären vom grünen Wachstum und linker Rechenschwäche ein gemeinsames Projekt entstehen?

Die Folge der Privatisierung des öffentlichen Reichtums ist die Privatisierung der Lebenspläne

Ich bin sicher, die linke Meinungsführerschaft könnte neu gewonnen werden, wenn die drei Sozialdemokratien mit Projekten wie einem hypermodernen, aber dezentralen Energiesystem, einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme auf Steuerfinanzierung, einem kommerzfreien Pflegesystem, einer Entföderalisierung und Entbürokratisierung des Bildungswesens in die Wahlkämpfe ziehen würden.

Und wie könnte man die Parteien dazu bringen, etwas zu riskieren in diesem reichen Land? Wenn wieder eine halbe Million heller Bürger in die großen Parteien einträten und dort die Diskussion entfachen und die Eliten ablösen – sagt, auf den Seiten von Miegels „Denkwerk Zukunft“, der ehemalige Metro-Chef Klaus Wiegandt. Ich glaube, dafür sind die Parteien schon zu änderungsresistent. Die Folge der Privatisierung des öffentlichen Reichtums ist die Privatisierung der Lebenspläne.

Aber, so denke ich manchmal: Vielleicht reichte ja eine kritische Masse von 50, 60 aktiven Menschen in jedem Wahlkreis, die den Abgeordneten die Bude einrennen, im Wahlkreis wirksam bekannt machen, wen sie für wählbar halten, und dessen Performance dokumentieren: mit ein wenig Geld, guten Ideen und überraschendem Marketing einfach mal so tun, als gäbe es den freien Politiker.

Aber immer, wenn ich solche Ideen denke, sagte meine Frau: „Jetzt hast du wieder von Peter Glotz geträumt“, und geht sich die Zähne putzen. Und ich warte ängstlich auf den Traum, in dem Sigmar Gabriel durch mein Fenster fliegt.