GEHT’S NOCH?
: Senfgas

Im Irak lagern nach wie vor Chemiewaffen – geliefert von den USA und auch Deutschland. Nun gehören sie dem IS

Als ob dieser ganze Irakkrieg nicht ohnehin schon ein einziger Skandal gewesen wäre, von der erstunkenen Kriegsbegründung über die Folter in Abu Ghraib bis zu den Morden der Söldnertruppe Blackwater – die New York Times legte diese Woche noch eins drauf. Also, sie berichtete darüber. Wie nämlich die US-Einheiten im Irak jahrelang immer wieder auf Chemiewaffen stießen – aber nicht etwa aus aktuellen Rüstungsprogrammen, wie sie Colin Powell im Sicherheitsrat so dramatisch behauptet hatte. Sondern sie fanden Altbestände aus den 80er Jahren, produziert mithilfe der USA und europäischer Länder, darunter Deutschland, unzureichend gesichert, mitunter leckgeschlagen und halb verbuddelt im irakischen Sand. Als nachträgliche Kriegsrechtfertigung taugte das alles nicht, ganz im Gegenteil, es war unangenehm.

Und so hielt man all diese Funde nahezu vollständig geheim, entsorgte nichts davon so, wie es den Regeln der Chemiewaffenkonvention entsprochen hätte, und verweigerte sogar den eigenen Soldaten, die etwa mit Senfgas in Berührung gekommen waren, die entsprechende Behandlung. Im Ergebnis sind einige der Fundstellen, wo getrost weitere Giftgasgranaten vermutet werden dürfen, bis heute ungesichert – auf derzeit vom „Islamischen Staat“ kontrolliertem Gebiet.

Dass die USA es nicht vermocht haben, dem Sturz des Saddam-Regimes den Aufbau eines funktionierenden Staates folgen zu lassen, wussten wir nun schon. Stattdessen Folter, Tod, Zerstörung, Bürgerkrieg. Dass aber die Bedrohung durch Chemiewaffen, die vor dem US-Einmarsch eigentlich keine mehr war, erst durch den Krieg wieder eine geworden ist, das ist neu.

In einer normalen Welt wäre das ein weiterer Anklagepunkt gegen George W. Bush, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und die anderen, die ohnehin wegen der Vorbereitung und Durchführung eines illegalen Angriffskrieges sowie der Anordnung von Folter vor Gericht stünden. In der Wirklichkeit ist es nur ein langer Artikel in der New York Times.

BERND PICKERT