GEHT’S NOCH?
: Spirale der Gewalt

MIT DER KRIMINALISIERUNG VON DEMONSTRANTEN ERSCHAFFT SICH DIE TÜRKISCHE REGIERUNG DEN EIGENEN ERZFEIND

Noch mehr Verhaftungen, noch mehr Repression gegenüber jeglicher Kritik an der AKP-Regierung. Das sind die Konsequenzen, die aus der Geiselnahme und dem Bombenanschlag von dieser Woche in Istanbul folgen. Selbstverständlich handelt es sich bei den der linksextremistischen DHKP-C zugeordneten Taten um terroristische Akte, die den türkischen Rechtsstaat in Gefahr bringen. Doch nicht weniger gefährlich ist, dass dieser Tage kaum jemand in der Türkei noch den Mut aufbringt, die Motive dieser Terrorakte öffentlich zu diskutieren, geschweige denn, wie es zu einer derartigen Radikalisierung kommen konnte, die vier Menschenleben kostete.

Elif Sultan Kalsen (27) wurde 2012 aus der Haft entlassen. 21 Monate hatte sie gesessen, weil sie am 1. Mai gegen das Versammlungsrecht verstoßen hatte. Am Mittwoch warf sie zwei Handgranaten auf das Polizeipräsidium in Istanbul und wurde daraufhin erschossen. Jurastudent Safak Yayla (24) wurde erstmals 2011 festgenommen und gefoltert, weil er gegen die Teilnahme des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan an einer Universitätsfeier protestiert hatte. 2013 verbrachte er wegen Terrorverdacht ein weiteres Jahr in Haft und lernte dort Bahtiyar Dogruyol kennen, der mit ihm gemeinsam am Dienstag einen Staatsanwalt als Geisel nahm. Ihre Forderung, den Namen des für den Tod des 14-jährigen Berkin Elvan verantwortlichen Polizisten bekannt zu geben, wurde ignoriert. Nach acht Stunden eröffnete die Polizei das Feuer, die beiden Geiselnehmer waren sofort tot, der Staatsanwalt starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Nur zwei Polizisten kamen bisher wegen der neun Toten bei den Gezi-Demonstrationen 2013 – zu denen auch Berkin Elvan zählt – vor Gericht, während Hunderte von Demonstranten zu unverhältnismäßig hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Allein die Kritik daran führt zum Terrorverdacht. Was folgt, ist eine Spirale der Gewalt. Denn mit der Kriminalisierung von friedlich beginnenden und durch Polizeigewalt eskalierenden Protestbewegungen wie Gezi erschafft sich die türkische Regierung den eigenen Erzfeind. FATMA AYDEMIR