Kurdische Ängste berechtigt

Das Göttinger Verwaltungsgericht widerspricht dem Bundesamt für Migration: Anerkannten kurdischen Flüchtlingen aus der Türkei dürfe der Schutzstatus nicht im Nachhinein entzogen werden. Eine nochmalige Verfolgung sei nicht auszuschließen

Am frühen Morgen des 16. September ist eine vierköpfige kurdische Familie von der Polizei aus ihrer Wohnung in Sandkrug bei Oldenburg geholt und nach Syrien abgeschoben worden. Das Ehepaar und der ältere Sohn lebten seit neun Jahren in Deutschland, ein weiterer Sohn kam hier auf die Welt. Die Familie galt als bestens integriert. Der Vater arbeitete lange in einer Gärtnerei, bis er diese Beschäftigung krankheitsbedingt aufgeben musste. Kurz vor der Abschiebung war die Familie von der Ausländerbehörde aufgefordert worden, sich bei der syrischen Botschaft neue Papiere zu besorgen. In der Hoffnung auf Bleiberecht kam sie dem nach – dennoch wurde die Familie abgeschoben. Amnesty International wirft Syrien nach wie vor „diskriminierende Gesetze und Praktiken“ auch gegen die kurdische Minderheit vor. Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung mit der Regierung in Damaskus ein Rückführungsabkommen geschlossen. RP

VON REIMAR PAUL

Das Göttinger Verwaltungsgericht hat die Praxis des Bundesamtes für Migration kritisiert, anerkannten kurdischen Asylbewerbern im Nachhinein den Schutzstatus zu entziehen. Oppositionelle Kurden, insbesondere Unterstützer der kurdischen Arbeiterpartei PKK und deren Familienangehörige, müssten in der Türkei noch immer mit Folter und Misshandlung rechnen, befand das Gericht. Die Entscheidung wurde gestern bekannt gemacht (Az 1 A 392 / 06).

Konkret ging es in dem Verfahren um den Fall einer im Kreis Göttingen lebenden Kurdin aus der Türkei. Sie hatte gegen einen Bescheid des Bundesamtes geklagt, mit dem der Flüchtlingsstatus der Frau widerrufen worden war.

1999 war das Bundesamt vom Verwaltungsgericht verpflichtet worden, die Frau als asylberechtigt anzuerkennen. Sie sei in ihrem Heimatland schwerer Folter ausgesetzt gewesen, so das Verwaltungsgericht damals. Die Polizei habe aus der Frau Aussagen über den Vater und einen Bruder herausprügeln wollen. Diese seien der Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK bezichtigt worden.

Im Jahre 2006 hatte das Bundesamt den Flüchtlingsschutz widerrufen. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht mehr vor, hieß es in dem Bescheid. Zur Begründung führte das Amt unter anderem mehrere Gesetzesänderungen in der Türkei an, die Folter für die Zukunft ausschließen sollten.

Die Kurdin argumentierte, die Verhältnisse in der Türkei hätten sich entgegen der Annahme des Bundesamtes nicht grundlegend geändert – und hatte damit vor dem Verwaltungsgericht Erfolg. Zwar habe das türkische Parlament im Rahmen der Beitrittsbemühungen zur Europäischen Union die Todesstrafe abgeschafft, die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte aufgelöst und das Strafrecht reformiert. Mit diesem „Mentalitätswandel des Gesetzgebers“, so das Gericht, hätten Verwaltung und Justiz in der Türkei jedoch nicht immer Schritt halten können.

Gerade im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitskräfte sei es in der Türkei bislang zu keiner nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage gekommen. Mutmaßliche Unterstützer der PKK wie die Klägerin müssten auch heute noch Angst vor Folter haben, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten.

Das Verwaltungsgericht berief sich bei seiner Urteilsfindung auf die Auswertung umfangreicher Erkenntnisse und Gutachten, etwa des Auswärtigen Amtes und von Amnesty International. Da die Klägerin aufgrund eines rechtskräftigen Urteils als Flüchtling anerkannt worden sei, hätte ein Widerruf nur erfolgen dürfen, wenn sich nach dem Urteil die Bedingungen im Herkunftsland grundlegend geändert hätten, etwa durch einen politischen Umsturz. Im verhandelten Fall hätte eine Verfolgung auf absehbare Zeit und mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sein müssen. „Eine solche Sicherheit vermochte das Gericht nicht zu gewinnen“, sagte ein Justizsprecher.

Flüchtlingsverbände zeigten sich über das Göttinger Urteil erfreut, wiesen aber darauf hin, dass das Bundesamt nicht daran denke, seine Widerrufs-Praxis einzustellen. Im Gegenteil plane das Amt, tausenden anerkannten Flüchtlingen den Schutzstatus wieder zu entziehen. „Es ist ein Unding, dass es überhaupt so viele Widerrufsverfahren gibt“, sagte Kai Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat. Diese Verfahren würden offenbar „auf Weisung“ der Behördenleitung betrieben.

Anstatt sich auf sein „Kerngeschäft“ zu konzentrieren und über politisches Asyl zu entscheiden, beschäftige sich das Bundesamt immer mehr mit Widerrufsverfahren, kritisiert auch Pro Asyl. Nach Angaben der Organisation will die Behörde bis zum Jahresende in rund 40.000 Fällen prüfen, ob ein früher einmal gewährter Flüchtlingsschutz kassiert werden kann. Dabei habe das Bundesamt ganz besonders türkische Flüchtlinge im Auge, von denen die meisten Kurden seien. „Überproportional oft“ werde behauptet, Kurden aus der Türkei seien nach einer Rückkehr nicht mehr gefährdet, so Bernd Mesovic von Pro Asyl. Bei anderen Herkunftsstaaten werde wesentlich zurückhaltender widerrufen.

Mesovic vermutet eine politisch motivierte Weisung des Bundesinnenministeriums bei den Türkei-Verfahren. Das Bundesamt habe scheinbar den Auftrag, „die Verhältnisse in der Türkei so lange wie möglich schönzureden“.

Dass die Widerrufsverfahren überhaupt so zunehmen, ist aus Sicht von Pro Asyl eine Folge des Zuwanderungsgesetzes. Dieses schreibt eine Regelüberprüfung bei allen anerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren vor. Nur wenn die Voraussetzungen für ihre Anerkennung weiter existieren, ist ein dauerhafter Aufenthalt möglich.