Eine unendliche Wanderung

Die „Enzyklopädie Migration in Europa“ zeigt, dass Zuwanderung, Integration und interkulturelle Begegnung seit langem zentral für die europäische Kulturgeschichte sind

Wie schwer sich Deutschland mit seinen Einwanderern tut, ist derzeit mal wieder besonders schön bei der CDU zu besichtigen. Das gilt nicht nur für stramm rechte Konservative wie den hessischen Noch-Ministerpräsidenten Roland Koch, der mit Hilfe rassistischer Untertöne seinen Landtagswahlkampf gewinnen wollte. Das gilt für die Mehrheit der Partei.

Die CDU hat jüngst einem neuen Grundsatzprogramm zugestimmt, das mit semantischen Verrenkungen versucht, sich einer problematischen Beziehung zu entledigen: die der Christdemokraten zum hiesigen Einwanderungsland. Dafür hat die CDU das „Integrationsland Deutschland“ geschaffen. Das klingt besser als das problembehaftete Einwanderungsland und suggeriert, Integrationspolitik sei eine Art Reparatur, mit der die Schäden einer historischen Ausnahmesituation behoben werden können. Wiederholen soll sich diese Situation ohnehin nicht.

Doch von einer historischen Ausnahmesituation kann nicht die Rede sein. Die jüngst erschiene „Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ zeigt, „dass Zuwanderung, Integration und interkulturelle Begegnung seit jeher zentrale Elemente der europäischen Kulturgeschichte waren“. So schreibt es einer der Herausgeber, der inzwischen emeritierte Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Bade, in seinem Vorwort. Bade und seine drei Mitstreiter aus Osnabrück und dem niederländischen Leiden haben ein wichtiges Buch vorgelegt, das eine Lücke füllt. Denn bislang fehlte es an einem umfangreichen und zugleich übersichtlichen Werk, das die Erkenntnisse über die europäische Migrationsgeschichte zusammenfasst.

Den ersten großen Teil der Enzyklopädie bilden 17 Artikel über einzelne Länder und europäische Großregionen – wie Skandinavien, das Baltikum und die Iberische Halbinsel. Auf wenigen Seiten geben sie einen Überblick über die historische Entwicklung der Migration und die Rahmenbedingungen der Integration in der beschriebenen Region.

Es folgen mehr als 200 Gruppenartikel von den ägyptischen „Sans Papiers“ in Paris seit den 1980er-Jahren bis zu den Zyprioten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dazwischen werden die Geschichten ganz unterschiedlicher Migrantengruppen erzählt: von bosnischen Bärenführern zum Beispiel, die im 19. Jahrhundert mit dressierten Tanzbären in West- und Mitteleuropa ihren Lebensunterhalt zusammenbrachten. Von deutschen Bäckergesellen, die im 17. Jahrhundert nach Amsterdam zogen und es dort schwer hatten, Meister zu werden. Von chinesischen Zuwanderern, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der italienischen Modeindustrie anheuerten, und deutsche Senioren, die sich im späten 20. Jahrhundert in Spanien niederließen. Die Gruppenartikel zeigen die große Vielfalt der Migranten, die nach und in Europa wanderten.

Im Blickfeld der Enzyklopädie stehen dabei ausschließlich allochthone Gruppen, also über Grenzen Eingewanderte und ihre Nachfahren. Mit diesen Grenzen aber sind nicht nur staatliche, sondern auch soziale Barrieren gemeint. Das zeigt das Beispiel der aus dem preußischen Osten stammenden, im ebenfalls preußischen Ruhrgebiet zugewanderten „Ruhrpolen“ aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert.

„Sie waren“, so heißt es in der Enzyklopädie, „als Ergebnis der Teilung Polens preußisch-deutsche Staatsbürger, aber polnischer Nationalität und Muttersprache sowie katholischer Konfession und erlebten im Ruhrgebiet, zwar nicht im rechtlichen, aber im sozialen, kulturellen und mentalen Sinne einen echten Zuwanderungsprozess, ohne über Staatsgrenzen zugewandert zu sein“. Wer im Buch gezielt sucht, dem helfen gut aufgebaute Verzeichnisse und Querverweise zwischen Länder- und Gruppenartikeln, zudem gibt es Literaturhinweise am Ende eines jeden Artikels.

Besonders interessiert die Autoren die Frage nach der Integration und Assimilation der Einwanderer. Warum bleiben manche Gruppen sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstwahrnehmung so lange zugewanderte Minderheiten? Warum hinterlassen andere kaum Spuren? Das sind Fragen, die die Autoren zu beantworten suchen. Für die derzeit wichtigen Migrantengruppen, die – wie die Türken in Deutschland – erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zugewandert sind, sind Antworten derzeit aber nur eingeschränkt möglich. Für eine historische Integrationsbetrachtung braucht man mehr als drei Generationen.

Die Enzyklopädie zeigt eindrücklich: Deutschland ist ein Einwanderungsland – und zwar nicht erst, seit die sogenannten Gastarbeiter ins Land kamen. Auch wenn die Union sich mit dieser Erkenntnis weiter schwertut.

SABINE AM ORDE

Klaus J. Bade u. a. (Hg.): „Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007, 1.156 Seiten, 78 Euro