Die stille Rebellion

Fünf Jahre lebte die Journalistin Christiane Hoffmann als Korrespondentin in Teheran. In „Hinter den Schleiern Irans“ schildert sie ihre Annäherung an Unbekanntes: Ein subjektiver Bericht, der nicht von der großen Politik erzählt, sondern von deren Widerhall im Alltagsleben

Schon der Titel, „Hinter den Schleiern Irans. Einblicke in ein verborgenes Land“, deutet darauf hin, dass dieses Buch andere Ziele verfolgt als all die politischen Bücher, die in den letzten Jahren über den Iran geschrieben worden sind. Es liefert keine Analysen der großen politischen Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Iran immer wieder in westlichen Medien Schlagzeilen machen. Der Konflikt über das iranische Atomprogramm oder die Rolle Irans als eine entstehende Großmacht in der Region werden nur am Rande erwähnt. Das Buch ist vielmehr ein recht mühsamer Versuch, in die „Seele“ oder besser in die „Seelen“ der iranischen Gesellschaft einzudringen und all die Widersprüche, die jeden aufmerksamen Besucher in Erstaunen versetzen, zu begreifen und zu erklären.

Die Voraussetzungen, die die Autorin Christiane Hoffmann für ihr Vorhaben mitbringt, könnten kaum günstiger sein. Sie lebte jahrelang im Iran und hatte durch die Tätigkeit ihres Mannes als Botschafter der Schweiz, die zugleich die Interessen der USA im Iran vertritt, Zugang zum islamischen Establishment. Gleichzeitig war sie als Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Teheran tätig. Schließlich beherrschte sie die persische Sprache, was ihr einen breiten Kontakt zu der Bevölkerung ermöglichte. Doch alle diese günstigen Voraussetzungen hätten zu diesem Buch nicht ausgereicht, wenn sie nicht von einem geradezu unbedingten Willen getrieben worden wäre, den schwarzen Schleier zu lüften, den die meisten Medien im Westen über den islamischen Gottesstaat Iran gelegt haben. So musste sie nach eigenen Angaben den ersten Vorsatz, als Journalistin „Iran in westliche Begriffssysteme zu übertragen“ und von einem neutralen Standort aus objektiv zu berichten, aufgeben. „Je länger ich in Iran lebte, desto mehr verlor ich diesen Ort – wenn es ihn jemals gegeben hatte“, schreibt Hoffmann.

Je tiefer sie in das Denken und Fühlen der Iranerinnen und Iraner eindringt, desto weiter entfernt sie sich von dem westlich geprägten, vermeintlich objektiven Standort und gewinnt eine ganz andere Sichtweise auf Begriffe wie Toleranz, Sexualität, Erotik, Moral, Lüge und Wahrheit. Sie muss sich zunächst anpassen, muss sich – auch wider Willen – den gesellschaftlichen Regeln und Bestimmungen fügen, wozu auch Kopftuch und lange Kleider gehören. Sie lernt aber auch bald von Einheimischen, wie man die Regeln umgehen kann, nicht indem man sie missachtet oder ignoriert, sondern indem man sie so handhabt, dass ihr Sinn und Zweck entstellt, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt wird. Es ist bekannt, dass der größte und wirksamste Widerstand gegen die herrschenden Islamisten im Iran von Frauen getragen wird. Sie führen einen mutigen Kampf für Gleichberechtigung, die sie längst nicht erreicht haben. Aber dieser Kampf hat selbstbewusste Individuen aus ihnen gemacht. Sie haben immer mehr Positionen erobert, ihre Rolle in der Gesellschaft ist ungleich größer als zu Zeiten des Schahs. An den Universitäten wurde eine Quotenregelung für Männer eingeführt, weil inzwischen 60 Prozent der Studienplätze von Frauen besetzt sind.

Bei ihrer Suche verspürt die Autorin ambivalente Gefühle. Den Schleier empfindet sie als ein Symbol der Unterdrückung, fühlt sich aber zugleich darin geborgen „wie ein Kind, das unter einer Decke spielt, darin eine Höhle baut, in der es ganz bei sich sein kann“. Die sich widersprechenden Empfindungen irritieren sie, sie zweifelt an ihren eigenen Urteilen und Maßstäben. Ist der Westen tatsächlich das Maß aller Gesellschaften? Kann er den Anspruch auf universelle Gültigkeit seiner Zivilisation, seiner Werte aufrechterhalten, oder ist die westliche Zivilisation, wie der ehemalige iranische Präsident Mohammed Chatami behauptet, nur eine von vielen?

Es ist nicht die Absicht der Autorin, diese Fragen zu beantworten und allgemeine Thesen aufzustellen oder gar Urteile zu fällen. Ihr Bericht beruht auf subjektiven Erfahrungen. Sie schildert ihre Erlebnisse, Beobachtungen, Begegnungen und ist immer wieder fasziniert von der Vielfalt der iranischen Gesellschaft. Sie lernt radikale Fundamentalisten, aufgeklärte Reformer, westlich orientierte Säkularisten, liberale Demokraten kennen. Sie begegnet islamischen Feministinnen, emanzipierten Frauen und Männern, aber auch Traditionalisten, die aus Furcht vor Veränderungen immer stärker an der alten Lesart des Korans festhalten.

„Die Iraner sind Stilisten“, schreibt Hoffmann. „Das Entscheidende ist nicht der Inhalt, sondern die Form.“ Mit der Ehrlichkeit, die man Deutschen zuordnet, kommt Hoffmann nicht weiter. Im Persischunterricht lernt sie, wie viele Variationen die Sprache für Begriffe wie Lüge, Verstellung und List bietet. „Allein für Betrug kennen die Perser so viele Wörter wie die Eskimos für Schnee.“ Doch keines davon sei so „abwertend und tadelnd“ wie im Deutschen. Auch ihr erscheint bald „Lüge“ als ein „entsetzlich plumpes, moralinsaueres Wort für die unendlichen Schattierungen, die es bei der mangelnden Übereinstimmung von Bezeichnung und Wirklichkeit geben kann“.

Setzt man all die bunten Momentaufnahmen zusammen, die Hoffmann in einer schönen Sprache beschreibt, dann ergibt sich eine vielfältige Gesellschaft, die um eine eigene Identität ringt, um einen eigenen Weg in die moderne globalisierte Welt. Während die Fundamentalisten ihre rückwärtsgewandte Ideologie gewaltsam dem Volk aufzwingen wollen, blickt die Zivilgesellschaft nach vorn. Ihr Ziel ist nicht etwa, dahin zu gelangen, wo der Westen längst angekommen ist. Es geht, wie Hoffmann resümiert, darum, „individuelle Menschenrechte und Gemeinwohl miteinander zu vereinbaren, die individuellen Freiheiten zu schützen und zugleich die positiven Aspekte der Tradition mit ihrer Betonung der Gemeinschaft zu wahren: Familie, Solidarität, nichtstaatliche soziale Netze und Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft.“

Selten ist der in Iran spürbare Kampf zwischen Gottesstaat und Republik, der Aufprall der Moderne auf die Tradition so anschaulich und einfühlsam beschrieben worden. BAHMAN NIRUMAND

Christiane Hoffmann: „Hinter den Schleiern Irans. Einblicke in ein verborgenes Land“. Dumont, Köln 2008, 318 Seiten, 19,90 Euro