Sturz der Diktaturen

Ein Klassiker der Widerstandsliteratur: Gene Sharps „Von der Diktatur zur Demokratie“

1993 schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Gene Sharp für die birmesische Opposition ein kleines 100-Seiten-Büchlein mit dem programmatischen Titel „Von der Diktatur zur Demokratie“. Die orangenen Demokraten in der Ukraine, die Aktivisten der serbischen Otpor-Bewegung, die Rosenrevolutionäre in Georgien und die kirgisischen Kelkel-Dissidenten haben den „Leitfaden für die Befreiung“ gelesen und diskutiert. Heute zirkuliert er unter Oppositionellen in Weißrussland, im Iran und in Venezuela. Er ist in 33 Sprachen übersetzt worden, darunter Arabisch, Azeri, Tibetisch und Mandarin. Nun ist das Handbuch für den gewaltlosen Revolutionär auch auf Deutsch erschienen.

Sharp erklärt den Diktatoren dieser Welt einen „Krieg ohne Waffen“, zu dem er schlicht keine Alternative sieht. Den „Frieden des Gefängnisses oder des Grabes“ will er nicht akzeptieren. An die befreiende Wirkung der Gewalt kann er nicht glauben. Es wundert und ärgert ihn, dass den meisten Menschen zum Thema Gewaltlosigkeit nur Mahatma Gandhi und Martin Luther King einfallen. Schließlich haben gewaltlose Widerstandsformen in den zahlreichen Demokratiebewegungen der letzten vierzig Jahre die entscheidende Rolle gespielt. Sie wurden auf allen Kontinenten eingesetzt, wenn auch nicht immer mit Erfolg. Sharp verschweigt nicht die Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 oder in Birma ein Jahr zuvor. Wer glaubt, alle Macht entstamme den Gewehrläufen, wird von ihm einer sehr oberflächlichen Sichtweise bezichtigt und muss sich etwa an den beharrlichen Massenwiderstand der polnischen Solidarność erinnern lassen.

Sharp ist kein blauäugiger Pazifist. Er kennt die unzähligen Tricks der Diktatoren, der Opposition das Leben zur Hölle zu machen, und unterstreicht die Notwendigkeit eines wohlüberlegten und koordinierten Vorgehens. Auch und gerade der gewaltlose Kampf benötigt einen ausgeklügelten Schlachtplan. Systematisch analysiert Sharp die Schwächen und Stärken der Diktaturen und ihrer Gegner, die möglichen Zentren des demokratischen Widerstands und die Rolle des Auslands. Er bespricht die Chancen und Risiken verschiedener Kommunikations- und Organisationsstrategien und den Umgang mit Wut und Angst in Extremsituationen. Der Band endet mit einer imposanten Liste mit 200 Formen gewaltlosen Handelns, die von kleinen symbolischen Taten zu Streiks und Massendemonstrationen reichen.

Sharp ist kein Moralist, der den Menschen zu vervollkommnen sucht, sondern Pragmatiker und Stratege. Ihn interessiert einfach, „wie sich Diktaturen am effektivsten und mit so wenig Leid und Todesopfern wie möglich zersetzen lassen“, und wie sich anschließend verhindern lässt, „dass sich aus ihrer Asche sogleich neue erheben“. Dazu bedarf es leider oft des Heldenmuts, aber immer auch des Verstands und der Kreativität vieler völlig normaler Bürger.

Sharp ist auch kein Dogmatiker. „In einigen Fällen kann begrenzte Gewalt gegen die Diktatur unvermeidlich sein“, gesteht er. Gerade dann aber sei es wichtig, dass eine starke gewaltlose Bewegung ihre Unabhängigkeit bewahrt, wie etwa in der portugiesischen Nelkenrevolution oder beim Sturz des Marcos-Regimes auf den Philippinen. Je dominanter der bewaffnete Flügel einer Bewegung, desto wahrscheinlicher ein extrem blutiger Machtwechsel und die Errichtung eines neuen Gewaltregimes.

Schließlich ist Sharp kein Utopist. Sein Ziel ist nicht der gewaltlose Himmel auf Erden, sondern die liberale Demokratie, in der die notwendige Gewalt der Exekutive durch den Gesetzgeber, die Gerichte und die Zivilgesellschaft beschränkt und kontrolliert wird. Dieses Ziel aber muss immer auch in den Mitteln erkennbar bleiben. Wer über Demokratiebewegungen nachdenkt, sollte dieses kleine Büchlein lesen. Es ist inspirierend. Wer nach Wegen sucht, sie zu unterstützen, muss es lesen. Es macht Mut. MICHAEL HOLMES

Gene Sharp: „Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung“. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2008, 119 Seiten, 9,95 €