Tausend schleichende Tode

Der Historiker Orlando Figes hat mit „Die Flüsterer“ ein Mammutwerk über das Leben in Stalins Sowjetunion vorgelegt. Anschaulich wie noch nie belegt er ein millionenfaches Trauma

VON MATTHIAS LOHRE

Ilja Slawin wollte an die Revolution glauben. Der überzeugte Bolschewist aus Leningrad tat deshalb alles für seine Partei. Selbst während des „Großen Terrors“ 1937, als im Namen des Kommunismus Hunderttausende im ganzen Land verhaftet wurden. Und als ausgerechnet in dieser Zeit ihm die Genossen einen hohen Universitätsposten anboten, da schien das Leben des Familienvaters gesichert. Am Abend feierte er ausgelassen mit Frau und Kindern – bis um ein Uhr nachts ein Geheimdienstoffizier in der Wohnungstür stand. Ilja Slawin wurde verhaftet, und er ahnte, was das bedeutete. Bevor er ging, wandte er sich an seine Tochter Ida: „Meine Kleine, meine geliebte Tochter, es gibt Fehler in der Geschichte, aber vergiss nicht – wir haben etwas Großartiges begonnen.“ Es war Idas 16. Geburtstag. Sie sah ihren Vater nie wieder.

In „Die Flüsterer“ erzählt der britische Historiker Orlando Figes hunderte solcher Geschichten. Gesammelt und ausgewertet hat der 49-Jährige sie gemeinsam mit der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Der Professor an der Universität von London und die Memorial-Mitarbeiter haben Zeitzeugen der Verfolgungen der Stalin-Zeit befragt, und diese haben ihnen Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Fotos und Behördenunterlagen anvertraut, die sie zum Teil unter ihrer Matratze versteckt hatten. So groß war bei vielen noch immer die Angst, der Horror jener Jahrzehnte könne zurückkehren, als ein unachtsames Wort den Tod bedeuten konnte. Bis heute haben viele Überlebende eine tief sitzende Furcht vor jeder persönlichen Äußerung. Ganze Generationen in der damaligen Sowjetunion wurden mit dem Schweigen und dem Terror groß, und langsam stirbt die Generation der zwischen 1917 und 1930 Geborenen aus. Daher ist Figes’ tausendseitiges Buch vor allem ein Vermächtnis dieser verstummten Generation.

Mit leichter Hand verwebt Figes intime Szenen und politische Analysen über Art und Ursprünge des stalinistischen Terrorsystems. Dabei entsteht vor dem Auge des Lesers das Bild einer fremdartigen, Furcht erregenden Zeit. Die Ära Stalins, der die gewaltige Sowjetunion von 1924 bis 1953 nach seinen Macht- und Wahnvorstellungen formte und mindestens 25 Millionen Menschen in Lagern versklaven und Millionen ermorden ließ. Die Überlebenden lernten, niemandem zu vertrauen und sich sogar vor ihren eigenen Kindern zu verstellen.

Schon der Buchtitel zeigt, welche Deformationen der jahrzehntelange Terror hervorbrachte. Flüsterer, das waren zu Stalins Zeiten zum einen jene, die Persönliches nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen wagten. In den Erinnerungen einer Lehrerin an ihre Kindheit heißt es: „Wenn meine Eltern über etwas Wichtiges sprechen mussten, verließen sie stets das Haus und flüsterten miteinander. (…) Kein einziges Mal stritten sie sich über die Sowjetmacht oder kritisierten sie – obwohl es viel zu kritisieren gab –, zumindest kein einziges Mal in unserer Gegenwart. (…) Wir wohnten in einer Flüsterwohnung.“

Zum anderen waren Flüsterer das Heer der Spitzel, die den Behörden vermeintlich „Konterrevolutionäres“ zutrugen. Viele von ihnen wollten dem schier allmächtigen Regime ihre Loyalität beweisen oder erhofften sich einen persönlichen Vorteil. Doch viele glaubten an die Ideale der Revolution und der kommunistischen Propaganda, die immer neue „Konterrevolutionäre“ ausmachte.

Um dieses Doppelgesicht der Diktatur geht es dem Autor, der sich Ende der 90er-Jahre mit dem Buch „Die Tragödie eines Volkes“ über die Epoche der Russischen Revolution einen Namen gemacht hat. Wer Opfer war, konnte Täter werden – und umgekehrt. Die pseudoreligiöse Hingabe vieler Bolschewiki ging so weit, dass sie die eigene Verhaftung befürworteten: Weil die Partei immer Recht hatte, konnte die eigene Vernichtung durch sie kein Fehler sein, allenfalls ein nötiges Opfer auf dem Altar der Weltrevolution. In vielen Fällen mischten sich Opferkult, Panik und erschöpfte Resignation. Der Drehbuchautor Valeri Frid, der jene Zeit überlebte, schrieb später: „Wir alle waren wie Kaninchen, die das Recht der Schlange, uns zu verschlingen, akzeptierten.“

Über Stalins Verbrechen, die bis in die 70er-Jahre hinein auch viele bundesrepublikanische Linke verharmlosten, gibt es seit dem Untergang der Sowjetunion immer mehr Literatur. Doch kein Buch verknüpft Detailgenauigkeit, Analyse und Anschaulichkeit so gut wie „Die Flüsterer“, wenn es um die Darstellung des Alltagslebens der 140 Millionen Sowjetmenschen von 1917 bis zu Stalins Tod geht. Wenn es einen Kritikpunkt an diesem Buch gibt, dann ist es die Fülle an Einzelschicksalen, die der Autor anführt. Seite um Seite tauchen immer neue Menschen auf, die verhaftet, gefoltert, verbannt, wieder und wieder inhaftiert und ermordet werden: eine scheinbar endlose Prozession der Namen. Dadurch schadet Figes mitunter seinem Anliegen, aus den Menschenmassen der Toten und Bedrängten wieder Einzelpersonen zu machen.

Das Mammutwerk ist gerade noch rechtzeitig zustande gekommen. Die Geheimdienst- und Kremlarchive geben seit Putins Herrschaft ihre Unterlagen wieder weit unwilliger her als in den 90er-Jahren. Die Sowjetunion darf in der offiziellen Erinnerungskultur wieder strahlen, und selbst Stalin verehren heute wieder viele als ihren größten Staatsmann. Gleichzeitig sterben die letzten Zeitzeugen: die Kinder der Revolution, geboren im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ida zum Beispiel, die Tochter des 1937 verhafteten Ilja Slawin, erfuhr erst 1991 aus KGB-Unterlagen, was mit ihrem Vater geschehen war. Bereits drei Monate nach seiner Verhaftung hatten ihn Geheimdienstler erschossen. Seine Tochter sollte davon nie erfahren: „aus Gründen der Staatssicherheit“.

Orlando Figes: „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, 1.040 Seiten, 34 Euro