Die formale Demokratie

Fragmentierung der Gesellschaften und Globalisierung der Eliten: Colin Crouch diagnostiziert die „Postdemokratie“

Die da oben interessieren sich nicht für den „kleinen Mann“. Politikerkaste: Alle gleich! Demokratie? Achselzucken. Was nach 1989 als Verwirklichung eines idealistischen Gesellschaftsmodells erhofft wurde, als Sieg der Demokratie, der ein „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) zeitigen würde – auch politisch Unmusikalische kommentieren diese Erwartungen heute rückblickend als mindestens naiv.

Als Exportschlager mit Kollateralschäden ereilte die US-Demokratie-Variante in Afghanistan und Irak ein Glaubwürdigkeitsproblem. Für Skeptiker empirisch evident sind auch demokratieaushöhlende Eingriffe in die Freiheitsrechte nach 9/11. Mit einer krankhaften Spreizung von Ober- und Unterschicht, mit der Renaissance der Klassen, erlischt auch hier das flammende Bekenntnis, in einer idealtypischen politischen Ordnung zu leben.

Mit dem Soziologen Friedrich Tenbruck ließe sich dessen Analyse des Gratifikationsverfalls auf die aktive Teilhabe in der Demokratie anwenden. Die Handlungsökonomie des Menschen gestaltet sich nach Tenbruck unter der Perspektive des Ertrages. Der Gratifikationsverfall besteht darin, dass die subjektive Wertschätzung einer Handlung durch ihre routinisierte und unter Sicherheit gestellte Erreichung abnimmt. Der subjektive Wert der Demokratie, das bestätigen wöchentlich die Propheten der Meinungsforschungsinstitute, hält sich in Deutschland gerade noch die Waage mit ihrer Geringschätzung. Manifest ist ein diffuses Unbehagen am System, nicht nur am Stammtisch.

Auch die Politikwissenschaft identifiziert diesen Wandel nicht mehr nur an den Rändern. Der zuvor von Jacques Rancière verwendete Begriff der „Postdemokratie“ erfährt bei dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch eine polemische Zuspitzung in Buchform. Gerade 160 Seiten und in den einzelnen Aspekten, die er beleuchtet, keine Phänomene, die nicht auch andere schon aufgegriffen hätten. Dennoch erfuhr sein Buch vor allem in Italien und Großbritannien satten Widerhall.

Seine These: „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind, entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ Tatsächlich finden Wahlen statt, tatsächlich werden Regierungen auf Zeit mandatiert. Aber ebenso tatsächlich schwinden Einflussmöglichkeiten nationaler Regierungen. Sie folgen dem Diktat von Standortfaktoren der globalisierten Wirtschaft. Die Handlungssphäre nationaler Politik schrumpft mit ihrer internationalen Verflechtung, nationale Akteure simulieren vermittels PR-Profis und Spin-Doctors politische Differenzen zwischen den Parteien zur Profilbildung im Wahlkampf, der gänzlich personalisiert und als Event zelebriert wird. Lobbyisten nehmen jenseits parlamentarischer Kontrolle, gestaffelt nach ökonomischer Bedeutung, Einfluss, so Crouch. „Die Bürger verloren ihre Illusionen, sie waren zunehmend gelangweilt oder immer stärker mit den Problemen des Alltags beschäftigt.“ Die aktive Beteiligung weicht einer Abstinenz, die sich aus der Gewissheit der Machtlosigkeit von Politik speist. „Die Globalisierung der wirtschaftlichen Eliten und die Fragmentierung der restlichen Bevölkerung tragen dazu bei, dass die sozialen Kräfte, denen es um den Abbau ökonomischer und politischer Ungleichheit geht, gegenüber jenen an Einfluss verlieren, die zu der hierarchischen Ordnung zurückkehren wollen.“

Crouchs Buch erschien im Original 2004 und stand unter dem Einfluss von Berlusconis Wahlsieg 2001. Ein Lehrstück von Personalisierung, Inszenierung und Manipulation, tatsächlich „ein Kennzeichen von Diktaturen und von Wahlen in Gesellschaften mit schwach entwickelten Parteien- und Diskussionssystemen“, so Crouch. Auch wenn die Chimäre der italienischen Demokratie nicht als repräsentativ für einen europäischen Trend gelten kann: Der Anklang von Crouchs Buch begründet sich weniger in den Ausführungen seiner These. Hier ist Crouch mitunter läppisch und so holzschnittartig wie regressiv.

Dennoch gelingt es Crouch, den Schwebezustand von Demokratie zu fassen und die Latenz der Demokratie-Skepsis in den Begriff der „Postdemokratie“ zu überführen. Seine Leistung ist es, für Mechanismen des Unterschwelligen zu sensibilisieren. Postdemokratie ist eben nicht lediglich vordemokratisch im Sinne einer Demokratie- oder Politikverdrossenheit, die Demagogen Zulauf verschafft. Er erkennt ein subtiles Nebeneinander, ein Kontinuum zweier Gegensätze, die erst das Neue, die Postdemokratie, ausmachen. So steht er zwischen revanchistischen Demokratieverächtern und jenen, die den Zweifel an der Demokratie aussparen, um nicht die weitere Erosion zu schüren. Damit schärft er den Blick für ein sensibles politisches Konstrukt, das sich wandelt und keinesfalls gottgegeben ist. KAI SCHLIETER

Colin Crouch: „Postdemokratie“. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008, 159 Seiten, 10 Euro