Alle müssen raus?

Gwynne Dyer fordert den Rückzug des Westens aus Afghanistan und Irak. Doch wie will man Terrorregimen künftig begegnen?

VON BAHMAN NIRUMAND

Die Ära Bush neigt sich dem Ende zu. Der US-Präsident hinterlässt im Nahen und Mittleren Osten einen Scherbenhaufen. Man kann nur noch hoffen, dass er sich nicht kurz vor Torschluss in ein weiteres Abenteuer begibt, in einen Krieg gegen den Iran.

Die völkerrechtlich umstrittene Intervention in Afghanistan sollte das Terrornetz um Bin Laden vernichten, die Taliban in die Schranken weisen und der afghanischen Nation Frieden und Demokratie bescheren. Heute, sieben Jahre später, operieren Bin Ladens Al-Qaida-Netzwerk und ihre selbstständig gewordenen Gruppen weiterhin weltweit. Die Taliban sind wieder stark im Vormarsch und die Menschen in Afghanistan von Frieden und Demokratie Lichtjahre entfernt. Gar nicht zu reden vom Nachbarstaat Pakistan, dem Hauptverbündeten der USA in der Region, der zu den gefährlichsten Ländern der Welt zählt und am Rande des Zerfalls steht.

Noch weniger als im Falle Afghanistan haben die USA ihr Versprechen, den Irak zu einem Musterstaat für Demokratie zu verwandeln, einlösen können. Das Land befindet sich im Zustand eines Bürgerkriegs mit ungewissem Ausgang.

In der achtjährigen Amtszeit der Bush-Regierung haben die radikalislamistischen Organisationen wie die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah ihre Macht stark ausbauen können. Und der Iran konnte sich zu einer regionalen Großmacht entwickeln, seinen Einfluss in den Nachbarländern und den Staaten am Persischen Golf verstärken und trotz aller Sanktionen und Kriegsdrohungen sein umstrittenes Atomprogramm ausbauen.

Trotz alledem betrachten die USA nach wie vor die Kontrolle über den Nahen Osten als existenziell, nicht nur wegen den dort lagernden Energieressourcen, sondern auch aus politischen und militärstrategischen Gründen. Was ist also zu tun in dieser prekären Lage?

„Nichts“, ist die Antwort des kanadischen Historikers und Journalisten Gwynne Dyer, „einfach zurücktreten“. „Fremde Mächte haben für die Region keine Lösung mehr in petto, um sich noch weiter einzumischen“, sagt Dyer in seinem soeben auf Deutsch erschienen Buch „Nach Irak und Afghanistan“.

Die gesamte Region stehe zur Disposition, stellt Dyer fest. „Regime, ethnische Hackordnungen innerhalb von Staaten, und sogar die 1918 gezogenen Grenzen könnten sich verschieben. In fünf Jahren könnte es eine Islamische Republik von Arabien geben, ein unabhängiges Kurdistan, fast alles, was man sich ausmalen kann.“

Diese Tatsachen müssten hingenommen werden und die Region solle ihr Schicksal selbst bestimmen, wohl wissend, dass dabei „ein fürchterliches Schlamassel“ angerichtet werden könne, so Dyer. Jede Einmischung von außen würde alles „nur noch schlimmer machen“. Würde man zum Beispiel Afghanistan sich selbst überlassen, würde sich das Land zwar in absehbarer Zeit nicht zu einer Demokratie entwickeln, aber es würde den Weltfrieden weit weniger gefährden als heute.

Die Lieferung von Öl und Gas werde mit oder ohne die Kontrolle von außen weitergehen, denn die Staaten sind auf die Erlöse aus dem Verkauf angewiesen. Auch der Terrorismus werde ohne ausländische Einmischung nach und nach abflauen, denn sowohl der Terrorismus als auch der islamische Extremismus seien Reaktionen auf ein Jahrhundert ausländischer Beherrschung. Die USA hätten unter eklatanter Missachtung des Völkerrechts als Besatzungsmacht im Irak unverzeihliche Fehler begangen, was den irakischen Widerstand geradezu forciert, schreibt Dyer.

Die humanitären Katastrophen sind hinlänglich bekannt. Weit weniger kenne man die wirtschaftlichen Schäden. „Es ist wahrscheinlich, dass im ersten Jahr der Besatzung des Irak mehr Geld gestohlen wurde, als Mobuto Sese Seko in einer 32 Jahre währenden Ausplünderung des Kongos zusammenraufen konnte“, berichtet Dyer. Allein das Verschwinden von 23 Milliarden US-Dollar – irakische Gelder aus zuvor eingefrorenen Konten im Ausland – in den ersten Monaten lässt das Ausmaß des Raubs erahnen. Lange Zeit hindurch galt die irakische Gesellschaft als eine der säkularsten in der gesamten islamischen Welt. Heute ist das Land in unerbittlichen konfessionellen Kriegen verwickelt.

Doch auch wenn man von Anbeginn doppelt so viele Soldaten in den Irak geschickt hätte, die irakische Armee nicht aufgelöst, die Mitglieder der Baath-Partei nicht vom Staatsdienst ausgeschlossen und viel früher eine Übergangsregierung gebildet hätte, wäre die Geschichte kaum anders verlaufen. „Die US-Invasion im Irak musste fast zwangsläufig eine Widerstandsbewegung auf den Plan rufen.“ Bei allem, was geschehen ist, stehe es fest, dass die USA eher kurz- als längerfristig den Irak verlassen müssen und werden, schreibt Dyer.

Was immer danach komme, könne niemand voraussagen. Eine Föderation, ein Auseinanderbrechen in drei Staaten, eine Diktatur unter dem Schiiten Muktada al-Sadr, alles sei möglich. Der Irak ist ein erschreckendes Beispiel dafür, dass jede Einmischung von außen, jede Anwendung von Gewalt zu unkontrollierbaren Reaktionen und chaotischen Zuständen führen würde.

Die Strategie der gewaltsamen Einmischung habe die Wahrscheinlichkeit, dass in den meisten größeren arabischen Ländern irgendeine Art islamische Gruppe durch Wahl oder Revolution an die Macht komme, enorm erhöht. Unter diesen Umständen würde die beste Lösung nach Dyers Meinung darin liegen, dass die herrschenden Regime „mit einer Art demokratischer Öffnung“ begännen, „in der Hoffnung, dass bescheidene Schritte in diese Richtung ihnen Zeit verschaffen und sicherstellen könnten, dass der Übergang zu einer demokratisch gewählten Regierung, selbst wenn sie sich in ihrer Orientierung als islamisch erweist, nicht gewalttätig und rachsüchtig sein wird“.

Die Alternative dazu wäre, die Repressionen mit ausländischer Unterstützung fortzusetzen, gar zu verschärfen, in der Annahme, zumindest einige Regime am Leben erhalten zu können. Je länger der erste Weg vermieden und der zweite fortgesetzt wird, desto größer die Gefahr, dass Radikalislamisten an die Macht kommen. Das gelte für sämtliche islamische Länder.

Bleibt noch das Schicksal Israels. Israel ist die fünftgrößte Atommacht der Welt und die weitaus größte Militärmacht der Region. Dennoch sei Israels Lage politisch alles andere als sicher, schreibt Dyer. Denn keiner dieser Vorteile sei von Dauer. Auch nicht die bislang beinahe bedingungslose militärische und finanzielle Unterstützung durch die USA. „Die einzige wirkliche Garantie des langfristigen Überlebens des Landes besteht darin, ein anerkanntes Mitglied eines regionalen Staaten- und Wirtschaftssystems zu werden“, schreibt Dyer. Das ist jedoch ohne die vollständige Rückgabe der besetzten Gebiete unvorstellbar.

Der Nahe Osten brauche einen grundlegenden Wandel, schreibt Dyer. Zwar könne man die USA nicht für alles verantwortlich machen, was in dieser Region geschieht. Aber ihre militärische Präsenz und ihre Interventionen haben viel Unheil angerichtet. Sollten sie ihren Weg fortsetzen oder gar noch einen Angriff auf den Iran starten, werden sie „einen großen und unwiderruflichen Machtverlust erleiden“. Oder wie Zbigniew Brzezinski sagte, „ihren Platz in der Welt verlieren“.

Gwynne Dyer: „Nach Irak und Afghanistan. Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen?“ Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos. Campus Verlag, Frankfurt 2008, 248 Seiten, 19,90 Euro